Schwaben: Die Sprache, der Wein, die Küche und die Sprache

Horst Hummel begibt sich auf eine Exkursion an den Anfang der schwäbischen Zeit. Sein Essay über die Sprache, den Wein und die Küche ist die ungeschulte Meinung eines Schwaben über seine Landsmänner…

Es gäbe eigentlich keinen Grund, sich zur schwäbischen Küche zu äußern und zum schwäbischem Wein, müsste man nicht am Verstand derer zweifeln, die sie hervorbringen und hervorgebracht haben, ebenso wie die schwäbische Sprache und gäbe es nicht Grund zur Annahme, dass diese Erscheinungen tiefen Einblick gewähren in das Leiden der Menschen an sich selbst und ihrer Kultur.

Vielleicht haben schwäbischer Wein, die schwäbische Küche und die schwäbische Sprache ja nur deshalb so lange überlebt, weil niemand die Verbindung zwischen den Dreien und damit das Rätsel ihres Daseins erkannt hat. Wenn dem so ist, dann dürften ihre Tage gezählt sein, wenn wir uns nicht irren.

Werfen wir zunächst einen Blick auf den schwäbischen Wein. Wir sehen Trollinger. Trollinger ist der schwäbische Wein. Dabei stammt er gar nicht aus Schwaben. Er stammt aus Tirol, bis wohin die Schwaben, als sie die Römer verjagt haben, irgendwann einmal gekommen sind. Dort bei den Römern hieß er Vernatsch oder Edelvernatsch und von dort haben sie ihn nach Schwaben mitgebracht. Weshalb, ist nicht bekannt. Man kann nur spekulieren.

Ein Grund mag sein, dass sie einen Ersatz brauchten für Wasser, das in diesen Tagen bekanntlich ein Träger von gefährlichen Krankheiten war. Ein anderer, dass der Trollinger so dünn ist, dass man ihm kein Wasser zusetzten muss, um ihn als Durstlöscher zu trinken. Der Trollinger selbst stützt beide Versionen, und eine andere ist mir nicht bekannt.

In Schwaben nannten sie ihn zuerst Tirolinger und dann, ihren sprachlichen Möglichkeiten entsprechend, Trollinger. Dieser Wein wird heute in der internationalen Weinpresse gemeinhin als the awfull Trollinger bezeichnet, was so viel heißt wie der schreckliche oder der scheußliche Trollinger.

Weshalb dieser Wein, insbesondere im Hinblick auf die inzwischen herrschende Wasserqualität und ganz besonders den Wasserpreis, bis in die Gegenwart überlebt hat, ist das eigentliche Rätsel. Vielleicht rechnen die Schwaben mit dem Schlimmsten. Wir werden sehen.

Die Schwaben erstarren nicht. Sie stehen vor totem Most und freuen sich.

Ausgebaut wird der Trollinger im Wege der Kurzhocherhitzung der Maische, bei der diese kurzzeitig auf 80 °C erhitzt und dann abgepresst wird. Durch dieses Verfahren wird alles Leben im Most ausgelöscht. Die Hefen, Enzyme und Bakterien, die eigentlich für die Rotweinbereitung notwendig sind, werden abgetötet. Anschließend ist der Most tot. Sowohl unter önologischen als auch unter Qualitätsgesichtspunkten ist dieses Verfahren völlig unsinnig. Um die Gärung danach überhaupt wieder in Gang zu bekommen, müssen Reinzuchthefen, Nährstoffe und Bakterien zugesetzt werden. Der Most vergärt danach ohne die Trauben, wie ein Rosé oder ein Weißwein.

Auf diesem Wege kann nichts anderes entstehen als der dünne, hellrote Wein, der dem Trollinger zu seinem Ruf verholfen hat. Das wissen auch die schwäbischen Winzer. Würden sie die Trollingertrauben im Wege der Maischegärung verarbeiten, könnte in sehr guten Jahren sogar ein zwar leichter, einem dunklen Rosé ähnlicher, aber dennoch als Rotwein erkennbarer fruchtiger Wein entstehen, den auch Weinkenner bei passender Gelegenheit mit einigem Genuss trinken könnten. Das tun sie aber nicht.

Während die Franzosen nicht müde werden auf ihrer Suche nach dem Terroir, wird sie bei den Schwaben im Keim erstickt. Sie träumen vom toten Most. Vor der spontanen Gärung haben sie Angst. Anders ist ihr Angriff auf den Most nicht zu erklären. Todesangst. Sie müssen Gründe haben.

Wir werden sehen. Die Franzosen, die Italiener, und nicht nur diese, erstarren Jahr für Jahr an ihren Gärbottichen in Ehrfurcht vor dem Wunder der Gärung. Sie wissen, dass sich dort in unbändiger Gewalt die Kraft der Sonne entlädt, die sich das Jahr über in ihren Trauben angesammelt hat. Sie fühlen die Urgewalt, die Wärme und die Kraft, aus der alles Leben kommt.

Die Schwaben nicht. Sie stehen lieber vor totem Most und freuen sich. Findet die Gärung dann statt, ist sie eine kontrollierte. Es bizzelt ein bisschen im temperaturgesteuerten Edelstahltank. Mehr nicht. Niemand muss hinaufklettern, um den Maischehut unter den Most zu drücken. Es gibt ja schon längst keine Maische mehr im Most.

Und das Ergebnis kennen die an ihren Computern sitzenden schwäbischen Önologen ebenfalls längst. Es ist jedes Jahr das gleiche. Der Trollinger schmeckt immer gleich. Darüber sind sie am glücklichsten, die schwäbischen Önologen. Das hat er ihnen zu verdanken. Von wegen Jahrgangsunterschiede und so.

Ob es ein guter oder ein schlechter Jahrgang war, das entscheidet sich in Schwaben nach der Menge, niemals nach der Qualität. Viel ist gut. Man lässt sich schließlich die Weinqualität nicht vom Wetter diktieren. Und sie schaffen es wirklich, er schmeckt wirklich jedes Jahr gleich. Dass dies nur auf dem Niveau des kleinsten gemeinsamen Nenners geht, ist ihnen klar. Und dass dieser der schlechteste aller denkbaren Jahrgänge ist, ist ihnen egal. Sie sind stolz auf ihre Leistung. Und es ist wirklich eine, selbst aus einem guten Jahrgang noch einen Wein zu machen, der nach dem schlechtesten aller denkbaren Jahrgänge schmeckt.

Ist der Trollinger schließlich fertig, trinken ihn die Schwaben weg. Er wird ausschließlich in Schwaben von Schwaben getrunken. Und er wird ausschließlich in Schwaben von Schwaben gelobt. Er ist das Leibgetränk der Schwaben. Der Trollinger wächst auf den besten Weinbergslagen in Schwaben.

Steillagen über dem Neckar, die nach der einhelligen Meinung internationaler Wein- und Weinbauexperten für die Produktion von Weltklasserieslingen und Weltklassespätburgundern geeignet wären, werden in Schwaben von Schwaben mit Trollinger bepflanzt. Steillagen über dem Neckar, die nur mit schwerster Handarbeit überhaupt bearbeitet werden können und bearbeitet werden, sind mit Trollinger bepflanzt.

Aber nicht nur das. Steillagen über dem Neckar, die mit uralten Rieslingstöcken und mit uralten Spätburgunderstöcken bestockt sind, werden von schwäbischen Winzern gerodet, um dort Trollinger anzupflanzen. Die internationalen Experten haben versucht, die schwäbischen Winzer davon zu überzeugen, dass sie auf ihren Spitzenlagen auch Spitzenrebsorten anpflanzen müssen, vergeblich. Sie haben auch versucht, die schwäbischen Winzer davon zu überzeugen, dass sie den Trollinger aus ihren Spitzenlagen dann wenigstens wie einen Spitzenwein behandeln, ihn zurückschneiden und im Maischegärungsverfahren ausbauen sollen, ebenfalls vergeblich.

Die schwäbischen Winzer denken, dass die Schwaben ihn dann nicht mehr wiedererkennen und deshalb auch nicht mehr trinken würden, und sie haben Recht. Da sie ihn auch nicht exportieren oder in irgendeiner anderen Region außerhalb von Schwa- ben verkaufen können, haben sie die internationalen Experten nach Hause geschickt und pflanzen weiterhin Trollinger in ihre Spitzenlagen, und nicht nur dort.

Wie es schmeckt, zählt nicht. Was zählt, ist, dass es sich rechnet.

Dass sie für eine Flasche Trollinger nur wenig mehr bekommen, als eine Flasche anständiges Mineralwasser kostet, ist ihnen egal. Sie produzieren so viel davon, dass es sich rechnet, und es rechnet sich. Rechnet es sich nicht mehr, rechnen sie nach und produzieren mehr, bis es sich wieder rechnet. Es rechnet sich wieder, sagen sie dann zueinander, es rechnet sich.

Wie es schmeckt, zählt nicht. Was zählt ist, dass es sich rechnet. Hört man ihnen dabei zu, wie sie es zueinander sagen, stellt sich zum einen die Frage, wie können Menschen nur so reden, und zum anderen kommt einem der Gedanke, dass es vielleicht einen Zusammenhang geben könnte zwischen der Sprache und dem Wein, zur Küche kommen wir später. Gehen wir der Sache auf den Grund.

Wir müssen davon ausgehen, dass die Schwaben, bevor sie Schwaben waren, von den Vandalen als Alemannen – die die Schwaben waren, bevor sie Schwaben waren und nachdem sie Elbgermanen gewesen waren, die als Semnonen (siehe Anmerkung 1) bis ins dritte Jahrhundert zwischen Elbe und Oder heimisch waren, also dort, wo heute Berlin ist – aus der Region südlich und westlich des Jura, also dort wo heute die Schweiz ist und der französische Jura, ins Rheintal und von dort durch den Schwarzwald auf die Schwäbische Alb gejagt wurden.

Es war zu Zeiten der Völkerwanderung, also sagen wir so um das Jahr 300 n. Chr. und lange bevor die Schwaben, die sie damals noch gar nicht waren, damit begonnen haben, Wein zu machen. Oben auf der Alb angekommen stellten die Alemannen, die die Schwaben bis dahin noch waren, fest, dass die Vandalen verschwunden waren. Der Gebirgszug hatte ihr Leben gerettet. Hier würden sie bleiben. Da in den Höhlen Bären waren und in den Wäldern Wölfe, mussten sie auf der eisigen, steinigen Hochebene Feuer machen und Mulden buddeln, in die sie sich kauerten, um nicht aufgefressen zu werden oder zu erfrieren.

Als sie am nächsten Morgen erwachten, begannen sie sich Gedanken über ihre Zukunft zu machen. Einige von ihnen hatten Getreidesamen bei sich und Linsen. Allerdings gab es auf der ganzen Hochebene nicht ein einziges freies Fleckchen Erde, nichts als Steine soweit das Auge reichte.

Sie teilten sich in Gruppen auf, von denen jede ein Feld von Steinen befreien und Getreide anpflanzen sollte und Linsen. Die Steine schichteten sie am Rande der Felder auf. Am Abend blieben die Gruppen, die auch am Tag zusammengearbeitet hatten, zusammen, machten jede ihr eigenes Feuer und besprachen jede ihre eigenen Pläne für die Zukunft. Da sie alle am Rande ihrer Kräfte waren, befürchteten sie, dass sie gegenüber den anderen Gruppen ins Hintertreffen geraten würden.

Aus dieser Angst heraus begannen sie nachts heimlich damit, den anderen die Steine, die diese tagsüber aus den Feldern getragen hatten, wieder in diese hinein zurückzuwerfen. Da sie alle nachts dasselbe gemacht hatten, mussten sie am nächsten Tag allerdings so tun, als ob nichts geschehen wäre, und sie begannen von Neuem mit dem Einsammeln der Steine.

Am zweiten Tag ging die Arbeit schon etwas schwerer von der Hand. Nicht nur, weil man in der Nacht gearbeitet hatte, sondern auch wegen des Verdachts, dass man damit nicht alleine war. Fortan war ihre Arbeit begleitet von dem Gefühl, dass alles vergeblich ist und es keinen Ausweg gibt, ohne sich zu verraten. Jetzt waren sie nicht nur am Rande ihrer Kräfte, sondern auch voller Wut über die anderen und voller Scham über ihr eigenes Tun. Ihre Oberkörper, ihre Arme und ihre Köpfe waren nach unten zur Erde hin gebeugt und sie sammelten und schleppten Steine. So arbeiteten sie buchstäblich Tag und Nacht.

Ihr Dasein wurde elendig, und sie fanden keinen Ausweg. Ihre Sprache, die bis dahin alemannisch gewesen war, veränderte sich zu einem grimmigen, verzweifelten, zur Erde hin geraunten Grunzen. In ihrer Verzweiflung brüllten sie die auf der Erde liegenden Steine an, die sie für ihr Elend verantwortlich zu machen begannen. Sie bemerkten die Veränderungen an sich und begriffen, dass sie keine Alemannen mehr waren.

Vor der Erinnerung haben die Schwaben mehr Angst als vor dem Tod.

Jetzt waren sie Steine schleppende, Steine anbrüllende, Tag und Nacht arbeitende, zur Erde hin gebeugte, sich über ein unartikuliertes Grunzen verständigende, wütende, verzweifelte Wesen geworden, deren Gemeinzustand die Erschöpfung war. Sie waren jetzt Schwaben geworden und ihre Sprache Schwäbisch.

Schwäbisch ist die Sprache der Sprachlosigkeit und der Erschöpfung. Die Sprachlosigkeit gewährleistet, dass der Verrat am Anbeginn der Schwaben nicht zur Sprache kommt. Sie ist das Verbot, darüber zu sprechen, wer wir sind, woher wir kommen, was wir tun und wohin wir gehen.

Dieses Verbot ist in den Schwaben und ihrer Sprache verborgen. Es folgt ihrer Sehnsucht, nicht erkannt zu werden als das, wer und was sie in Wirklichkeit sind und sich selbst nicht als das zu erkennen. Es ist das schwäbische Tabu, das schwäbische Gründungstabu, das, wie alle Gründungstabus, gehütet wird wie der heilige Gral.

Die Schutzwacht des Tabus ist die Erschöpfung. Wer so viel arbeitet, ist erschöpft. Und wer so erschöpft ist, kann über diese Dinge nicht mehr sprechen. Das schwäbische System ist perfekt.

So auch die schwäbische Küche. Sie folgt der schwäbischen Sehnsucht und sie nährt die schwäbische Erschöpfung. Das Einzelne darf nicht erkennbar sein als das, woher es kommt, was es war und was es ist. Es muss aufgehen und untergehen in der großen Masse. Dort ist es geschützt, dort kann es nicht entdeckt werden und nicht erkannt. Alles schwimmt auf dem Teller in einem großen Brei und es macht satt. Das macht die Schwaben glücklich.

Deswegen wird in der schwäbischen Küche alles zusammengeschüttet und zusammengerührt. Hauptsache der Teller ist voll, egal womit, Hauptsache es schwimmt. Was in anderen Kücchen getrennt gekocht, getrennt serviert und getrennt gegessen wird, wird in der schwäbischen Küche entweder bereits beim Kochen, manchmal beim Servieren, spätestens aber beim Essen zusammengeschüttet und zusammengerührt.

Die Schwaben trennen nicht das Essen, sondern den Müll. Nur was verbraucht ist und entwertet, darf sein was es ist. Alles andere muss verborgen bleiben. Im Verborgenen ist er geborgen, der Schwabe. Deshalb haben die Schwaben auch die Maultaschen erfunden. Das, was die Maultaschen sind, wird einfach in Teig eingewickelt, damit es nicht mehr erkennbar ist als das, was es ist. Darauf verwenden sie die größte Mühe und die größte Sorgfalt. Die schwäbischen Maultaschen sind die besten Maultaschen der Welt.

Alles was sie nicht einpacken können oder einwickeln, kochen sie zu Matsch und Brei, rühren es zusammen und schütten eine braune Soße darüber, die aus Wasser, Fett und angebranntem Mehl besteht. Nirgendwo fühlt sich der Schwabe wohler, nirgendwo fühlt er sich sicherer, nirgendwo fühlt er sich geborgener, als vor einem dampfenden Haufen mit brauner Soße.

Dort herrscht absolute Sicherheit, dort herrscht absolute Geborgenheit, dort ist nichts mehr als das zu erkennen, was es ist und was es einmal war.

Linsen und Spätzle ist nicht etwa deshalb das Leibgericht der Schwaben, weil die in den Spätzle enthaltenen Kohlehydrate und die in den Linsen enthaltenen Proteine und Vitamine die Tag und Nacht arbeitenden Schwaben auf die wirksamste Weise sättigen und nähren, oder gar, weil sie Linsen einfach mögen und Spätzle, sondern weil sie die Linsen über die Spätzle schütten können, anschließend alles umrühren und nichts mehr erkennbar ist als das, was es ist und was es einmal war. Was bleibt ist ein dampfender Haufen mit brauner Soße. Dort wird die tiefste Angst des Schwaben geheilt.

Und dazu trinkt er Trollinger. Und den trinkt er nicht aus Gläsern, wie sie Weintrinker schätzen, weil ihnen das Bukett des Weines die Spuren seiner Herkunft, Hinweise über seinen Zustand und eine Ahnung von seiner Zukunft in die Nase führt. Nein, er trinkt ihn aus einem randvoll geschenkten kaffeetassenähnlichen Glasbecher mit einem grünen Henkel, weil nur dieses Gefäß sicherstellt, dass dem Schwaben auch der letzte Rest an Bukett, der ein Hinweis auf Herkunft, Zustand und Zukunft des Weines sein könnte, erspart bleibt.

So sitzt er am Ende des Tages eingeweicht in seinen Trollinger mit einem dampfenden Haufen im Bauch an seinem Tisch und ist erschöpft, und der Trollinger schützt ihn davor, sich daran zu erinnern, woher er eigentlich kommt und wer er ist.

Manchmal setzt sich einer zu ihm und erzählt ihm von einem Land, in dem die einzelnen Speisen ein- zeln zubereitet, einzeln serviert und einzeln gegessen werden und beide schütteln entsetzt den Kopf. Vielleicht kommt er gerade von einer Reise in ein solches Land zurück und erzählt, dass die Franzosen oder die Italiener nicht nur jedes Salatblatt einzeln zubereiten, einzeln servieren, einzeln essen und natürlich auch einzeln berechnen, sondern auch das Gemüse und das Fleisch und die Beilagen, wenn es überhaupt welche gibt, obwohl es genügend Platz gibt auf dem Teller, für alles.

Das ist Betrug, sagt er, und am Ende bezahlst du das Fünffache von dem, was du bei uns bezahlen würdest für ein Essen, nur weil sie behaupten, du hättest fünf Gänge gegessen, dabei hätte alles auf einen Teller gepasst. Dann stoßen sie erleichtert mit ihrem Trollinger im Henkelbecher darauf an, dass so etwas, Gott sei Dank, bei ihnen nicht passieren kann.

Nicht ohne Grund ist die schwäbische Küche die einzige Küche der Welt, die frei ist von fremden Einflüssen. Sämtliche Küchen der Welt sind an der schwäbischen Küche spurlos vorübergegangen. Napoleon ist es gelungen, die Errungenschaften der französischen Küche bis nach Russland zu tragen. Bis heute gibt es französische Spuren in der russischen Küche. Die Schwaben blieben davon unberührt.

Napoleon hat Schwaben erobert, hat Schwaben besetzt, hat Schwaben unterworfen, hat Schwaben unterjocht, er hat in Schwaben französisch gekocht. Als er verschwunden war, war auch die französische Küche aus Schwaben verschwunden. Spurlos. Ganz anders übrigens in Baden. Von der französischen Küche in Schwaben keine Spur. Die Römer waren in Schwaben, haben ihre Küche mitgebracht und gekocht, und als sie gegangen sind, haben sie sie wieder mitgenommen und die schwäbische Küche ist davon unberührt geblieben. Absolut.

Nicht der leiseste Einfluss römischer Küche auf die schwäbische Küche, nicht der leiseste Einfluss französischer Küche auf die schwäbische Küche. Nichts. Die schwäbische Küche ist die reinste Küche der Welt. Sie ist nur schwäbisch, nichts als schwäbisch, sie ist ausschließlich schwäbisch und wird es so lange bleiben, solange die Schwaben bleiben. Und die bleiben ewig, so wie die schwäbische Sprache ewig bleibt, wenn sie sich nicht erinnern, die Schwaben, und sie erinnern sich nicht, nicht in dieser Sprache.

Sie ist der wirksamste Schutz gegen die Erinnerung. Sie ist ausdrücklich und zu dem einzigen Zweck entstanden, den Verrat, das Elend und das Unglück am Anbeginn der Schwaben zu verbergen und die Erinnerung daran zu verhindern.

Vor der Erinnerung haben die Schwaben mehr Angst als vor dem Tod. Mit dem Tod können sie leben, mit der Erinnerung nicht. Sie würde ihnen erzählen vom Elend ihres Anbeginns, von ihrem Verrat und von ihrer Schuld. Das wissen die Schwaben, und das wollen sie nicht, denn es würde nicht nur das Ende ihrer Sprache, sondern auch ihr Ende als Schwaben bedeuten. Dass die Erinnerung sie wieder zu aufrechten Menschen machen würde, ist ihnen egal. Deshalb wird die schwäbische Küche ewig bleiben und der Trollinger auch. Außer, es fasst sich in Schwaben einer den Mut zur Erinnerung. Dazu müsste er allerdings die Finger vom Trollinger lassen. Ob er das schafft?

1 Stammvolk der elbgermanischen Sueben. Hüter des Hain, des höchsten Heiligtums der Sueben. Um 100 n. Chr. lag ihr Siedlungsgebiet im Raum zwischen Elbe und Oder von der böhmischen Grenze bis an die Havel, zeitweise auch jenseits von Oder und Warthe. Ab dem 3. Jahrhundert verließen die Semnonen, bis auf Restgruppen ihre Heimat an Havel und Spree in Richtung Oberrhein und gingen in den Alamannen, den späteren Schwaben auf.

Nachwort

Horst Hummels Texte bestätigen den Ansatz seiner geistigen Mentoren aus dem phänomenologischen Lager, dass eine Textualität vom Autor durch einen Gedankenfaden aus dem Kontext gewirkt wird. Im Vollzug des Schreibens sondern sich die Maschen, das einfach Gestrickte, die verstrickten und die verfilz- ten Knoten üblicher Gedankengänge der Einfalt, von dem zu Denkflächen verschmolzenen Fadengeflecht und Gewebe als Substantielles, als eine wesentliche Aussage ab. Sie ergeben aus den verwirkten Fäden des Ausgedrückten, einen Schamtüll für jene Gedanke- nimmanenz, durch die das Geheimnis des Ausdrucks des Autors plastisch erspürbar durchscheint. Auf den Spuren der inneren Form des Eigenen, durch das Ord- nen von Empfindung und Argument sowie durch das Ereignis des Sich-Stellens gegenüber der Sache, nämlich der Unbedingtheit des implizierten Wesens des Weines, verläuft eine höchst eigene Gedankenfügung mit folgenreichen Komplikationen und diese werden zu überraschenden Explikation geführt.

In dem Hummel’schen Text sind die zu Wörtern ver- wandelten Worte mit ihrer Wucht und Poesie am Werk und nicht die Wortwörtlichkeit. Die überlegt verantworteten Worte, die sich in der Sinndiktion unmittelbar aufdrängenden Wortfelder, schlagen sich als Antworten und nicht das logisch Seiende des jeweiligen Wortrahmens, des Frames aus dem lockeren Dunst der Sinne nieder oder scheiden sich aus der Versuchung eines Konkretismus mit Esprit (man be- denke dabei die atmende Seele und das Ingenium des Weines, sein Spiritus) aus. Die Wortbezüge selektie- ren und bilden allmählich einen klaren aber mit Muse eingeflochtenen Verstehenszusammenhang über das Sich-Einrichten der Wahrheit über den Wein. Indem einem dieses Surplus jenseits des Gesagtem einleuchtet und dieses wiederum dem Leser als ein Mehr-zum- Sein gewahr wird, nimmt der Leser auch einen Rück- bezug auf jenes Seinsgeschenk, was ihm eben durch die intensive Lektüre zu Teil wurde: eine kostbare Auslese, ein mit Prädikat, nicht mit Prädikt verabreichter Textgenuss, ein köstliches Werk mit Aussagedichte und ästhetischem Witz. - Ferenc Jádi

Lese-Empfehlung:
Wein und Sinn von Horst Hummel

  1. Auflage 2015, 64 Seiten, gebunden; 13.95 EUR
    ISBN 978-3-940259-33-2
Dieser Artikel ist in Schluck - Duft - Ausgabe 9 erschienen.
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Über Horst Hummel

Horst Hummel lebt in Berlin sowie Villany (Ungarn) und ist ein Ausnahmewinzer, Literat und Denker. Außerdem ist der Schwabe ein geborener Gastgeber und leidenschaftlicher Koch. Als Winzer ist er Visionär sowie Praktiker, dessen Theorien bereits in seinen Weingärten funktionieren.

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