Natürlich, es muss sein. Wenn in diesem Magazin vom Duft und vom Geschmack, vom Parfum der Wesen und der Dinge die Rede ist, muss auch Marcel Proust erwähnt werden. Was sich ins literarische Geruchsgedächtnis der Menschheit eingegraben hat, ist die Szene aus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, wenn Proust beschreibt, wie sein Held ein Stückchen Madeleine in heißen Lindenblütenhonig taucht und durch die Melange von Duft und Geschmack von Kindheitserinnerungen überflutet und innerlich mitgerissen wird. Das fluffige Biskuit erinnert ihn an Menschen, die er verloren hat. Die Macht der unwillkürlichen Erinnerung, die mit Gerüchen und Geschmäckern aufsteigt, ist stärker als jedes Wort und Bild. Auch Weine können die Macht haben, Emotionen und Erinnerungen auszulösen. Wieder Geruch eines Parfums.

Beim Wein ist es nicht nur der Duft, sondern auch der Geschmack. Wein zu genießen, bedeutet, ihn mit all seinen Sinnen im Körper wahrzunehmen. Dabei verschmelzen die Grenzen von Geschmack und Duft. Der Wein geht dann ganz in einem selbst auf.

Mit allen Sinnen

Nur bei fachlichen Weinproben werden die Grenzen von Verkosterprofis mit Müh’ und Not künstlich gezogen: Die Hingabe an das faszinierende Geschmackserleben versucht man durch Ausspucken zu verhindern, im Sinne eines vermeintlich objektiveren Geschmacksurteils. Ausspucken? Für jeden, der Wein wirklich liebt, ist das ein barbarischer Akt.

Nicht der gespuckte, sondern der geschluckte Schluck lässt einen die sinnliche Anmut und Tiefe eines Weins vollkommen erleben. Wie in der Liebe zu einem Menschen eröffnet sich manchmal sogar ein unbekanntes Erleben, ein neuer Horizont. Vielleicht.

Dennoch: Der Geschmackswelt des Weins kann man ausweichen, wenn es denn sein muss. Das Glas bleibt dann unberührt stehen. Einem Duft, der in der Luft liegt, kann man sich nicht wirklich entziehen. Etwa einem Parfumduft.

"Madeleine-Effekt"

Parfums sind Mixturen, die aus bis zu zweihundert Riechstoffen komponiert sein können und unseren Körpergeruch verändern und überdecken können. Die besten von ihnen besitzen als Wohlgerüche eine Komplexität und Entfaltungsdynamik auf der Haut, wie etwa gute Naturweine im Glas.

Ein Parfum lässt sich zwar als Flüssigkeit nicht schlucken, ohne Ekel hervorzurufen, der einen schnell Kotzen lässt. Dafür entfalten Parfumdüfte eine ganz andere Macht: sie einzuatmen gleicht einer Reise in eine körperlose Welt, die grenzenlos ist und unaufhaltsam auf schnellstem Wege ins Unterbewusste einsickert, ins Reich der Erinnerungen. Denn, wie wir wissen, gehen die Gerüche direkt ins limbische System, den für Emotionen wichtigen Teil des Gehirns. Hier lösen sie Gefühle aus: Freude, Lust oder Behaglichkeit, Angst oder Ekel. Riechen wir einen einmal erlebten Duft wieder, kehren die Erinnerungen zurück. Wenn Geschmacks- oder Dufterlebnisse plötzlich eine Flutganz bestimmter Erinnerungen hervorrufen, nennen Wissenschaftler das den „Madeleine-Effekt“.

Ben Krigler hat einen Duft entwickelt, der das mit der Madeleine verbundene Mysterium von Emotionen und Erinnerungen als Parfüm sinnlich erfahrbar zu machen versucht.

Buttrig-süßer Duft

Um ihn zu entwerfen, hat der New Yorker Parfumeur zunächst den Duft einer Madeleine analysiert: „Zuerst habe ich die Duftmoleküle einer Madeleine eingefangen und eine Art olfaktorisches Polaroid angefertigt“, sagt Krigler, „von dieser Analyse ausgehend habe ich dann die Gebäcknoten herausgefiltert.“ Anschließend hat Krigler aus Duftstoffen ein Parfum komponiert, das den buttrig-süßen Duft einer Madeleine frei interpretiert und in die Sprache des Parfums überträgt. Es ist ein Duft für Schleckermäuler: Man kann nicht genug von ihm bekommen.

Ein Duft für Schleckermäuler: Man kann nicht genug von ihm bekommen.

Krigler ist heute eine kleine Parfummanufaktur in New York, die in Handarbeit raffiniert aufgebaute Nischendüfte erzeugt, sogenannte Niche-Parfums. In den letzten Jahren gibt es immer mehr Kunden, die auf der Suche nach individuelleren Parfums sind. Sie müssen nicht nur zitrusfruchtig und blumig sein, es gibt auch wieder eine Nachfrage für würzige, schwere, komplexe Düfte, die lange Zeit aus der Mode waren.

Frisch, frech, berlinerisch – Düfte, die den Puls der Hauptstadt tragen: Frau Tonis.

In Berlin betreibt Stefanie Hanssen „Frau Tonis Parfum“, ein kleines Independent-Duftlabel, das die Duft-Szene der Hauptstadt mit unkonventionellen Ideen und individuellen Parfums seit einigen Jahren gründlich durchlüftet. Man kann sich hier sogar sein eigenes Lieblingsparfum kreieren lassen. Die Düfte selbst werden weitgehend konventionell von größeren Parfumherstellern für das kleine Parfumlabel erzeugt, weshalb sie aber preislich noch relativ erschwinglich sind. Sie beruhen teilweise auch auf synthetischen Duftstoffen.

Krigler Düfte bestehen weitgehend aus echten Duftstoffen, was eben seinen Preis hat. Sie sind komplex, kostbar und opulent, spielen mit der Erinnerung an die klassische Zeit der Parfums Anfang des 20. Jahrhundert, als Firmengründer Albert Krigler, ein gebürtiger Berliner, einige unsterbliche Düfte schuf, wie etwa „Hermitage Heritage 04“. Das ist eine Kreation aus dem Jahr 1904, die Suchtpotenzial hat, mit Trüffel, Eichenmoos, Vanille, Zitrone und Tabak.

Krigler hatte die Manufaktur 1879 in Moskau gegründet. Von 1905 bis zum Ersten Weltkrieg hatte sie ihren Sitz in Berlin auf der damaligen Prachtmeile Unter den Linden, wo Krigler 1905 einen der schönsten Linden-Düfte überhaupt komponierte, den „Schöne Linden 05“ mit einer herrlich altmodischen Anmutung aus Sandelholz, Tuberose, Gardenie und Linde. Kriegler's Düfte werden bis heute rein handwerklich erzeugt, sie sind rar und teuer. Sie umweht eine Aura aus Geschichte und Erinnerungen. Ihr Duft entfaltet sich lebendig im Raum und weich auf der Haut: Er verschmilzt mit dem Körpergeruch, warm, sinnlich, ohne in die Nase zu stechen oder aufgesetzt zu wirken und zu viel Raum einzunehmen.

Parfumkunst, die nach Eleganz vergangener Tage duftet: Kriegler.

Nischendüfte bilden die Gegenwelt zu den großen Markenparfums, die Massenprodukte sind und weitgehend aus billigen synthetischen Duftstoffen bestehen und vor allem durch ihr Marketing präsent sind. Als Düfte aber sind sie längst tot. So war es auch bei „Mitsouko“, einem hinreißenden, vielschichtigen Duft, der 1919 von Jacques Guerlain kreiert worden war, in den 20er-Jahren berühmt und oft kopiert wurde und lange als Duftklassiker galt. 2009 erließ die EU Verordnungen zu hautallergenen Stoffen in Parfums. Daraufhin wurden fast alle berühmten Parfummarken so überarbeitet, dass sie den EU-Empfehlungen entsprachen: Viele Duft-Kompositionen wurden zerstört und meist durch banale synthetische Düfte ersetzt. Einst große Düfte wie „Mitsouko“, „Fahrenheit“ oder „Vent Vert“ riechen heute clean, sind als Düfte tot, auch wenn sie noch unter dem alten Markennamen in denselben Flacons verkauft werden.

Überarbeiten bedeutet, natürliche Duftstoffe wegzulassen und durch synthetische Öle zu ersetzen, die viel billiger sind als Düfte, die aus echten Pflanzen, Blüten und Samen destilliert werden. Dabei wird die Komposition neu formuliert und es wird dann behauptet, dass sie zu hundert Prozent die alte Komposition ersetzen würde, was meist nicht stimmt.

Vom Original zum Abklatsch

Bei „Mitsouko“ war es das Eichenmoos, eine Duftkomponente, die als Basisnote diente. Was heute als „Mitsouko“ verkauft wird, hat nichts mehr mit dem Original zu tun. Alte, nicht überarbeitete Düfte, oft sogar aus angebrochenen Flacons, werden gesammelt und versteigert. Sie gelten als Zeugen einer verlorenen Duft-Ära. Es ist vielleicht so ähnlich wie bei Bordeaux aus den 1980er-Jahren, als die Moste noch nicht konzentriert wurden und die Weine weniger „gemacht“ wurden. Auch Weine aus wurzelechten Reben tragen ein solches Versprechen in sich.

Bei manchen Duftstoffen macht das Überarbeiten ja durchaus Sinn, etwa bei Essenzen, die aus tierischen Sekreten erzeugt werden wie Moschus, Amber und Bibergeil (Castoreum), sie werden heute fast nur noch synthetisch erzeugt. Viele Duftstoffe können übrigens allergische Reaktionen auslösen, wenn man es übertreibt. Dieses Risiko gehört dazu, so wie der Alkohol, die Säure oder der Zucker des Weins nicht für jeden gut sind. Sie aber gänzlich durch synthetische Ersatzstoffe zu ersetzen, bedeutet, eine schillernde Duftkultur zu zerstören.

Nischendüfte: Kunstwerke der Persönlichkeit

Hinter Nischendüften steht oft eine Absicht. Etwa die, das Wesen eines Menschen in einem Duft auszudrücken. Es geht um Seele und Duft, um den künstlerischen Ausdruck eines Parfums. Wie die Naturweine sind sie eine Gegenbewegung, zu etwas, was aus der Spur geraten ist.

Duft als Spiegel der Seele

Und es gibt sogar noch radikalere Duftkompositionen, die keine Parfums mehr sein wollen: die Französin Katia Apalategui komponiert Düfte, die den Geruch verstorbener geliebter Menschen aufleben lassen und den Hinterbliebenen hilft, ihre Trauer besser zu ertragen. Solche Düfte sind maßgeschneidert und sehr intim.

Mit den kleinen Duftmanufakturen gibt es eine Gegenbewegung zu billig riechenden Mainstreamdüften. Sie sind nicht nur individueller und gewagter komponiert, sie richten sich auch an ein anderes Publikum: Hier geht es nicht mehr um alte Geschlechterklischees, um Herren- und Damendüfte, um Erotik und Verführung. Nischendüfte sind oft Unisex. Das Parfümieren ist heute ein stillerer, sehr persönlicher Akt geworden: Man parfümiert sich auch, wenn man alleine ist, um einen besonderen Augenblick intensiv zu genießen. Denn der Duft, an dem wir uns nicht satt riechen können, ist ein Spiegel unserer Stimmung. Er hüllt uns in eine Atmosphäre, kennt unsere Freude, unser Leid, weiß alles über uns.