Es ist März und in Chicago bläst ein eisiger Wind. Der Michigansee scheint heuer nicht aufzufrieren. Auf den Straßen treibt der Wind die Reste der gestrigen St.-Patricks-Day-Parade vor sich her. Ein irischer Whisky wäre jetzt nicht schlecht. In der Kantine des Chicago Memorial Hospital herrscht Alkoholverbot. Hier erwartet mich Sam Richards, Leiter am Institut für Organverpflanzungen und Gefäßchirurgie. Ich wickle mich aus meiner dreifach gestopften Jack-Wolfskin-SUV-Jacke, in die ich eine 0,75-Liter-Flasche Zirbengeist gepackt hatte, die mittlerweile leer ist. Sam Richards fragt: „Kennen Sie sich aus mit Weinen?“ Ich nicke. „Einen weißen Ornellaia blind von einem Silex von Dagueneau unterscheiden, das schaffen Sie?“ Ich nicke. „Doch einen weißen Ornellaia aus zweihundert Sauvignon Blancs herausschmecken, niemals. Das schaffen Sie nicht. Meine Patientin schafft das. Noch nicht jetzt, aber bald.“

Ich werfe ein, dass beim weißen Ornellaia, von dem es nur ein Jahr gab, auch noch Viognier dabei sei, was das Design einer solchen Blindverkostung doch ein wenig ändere. Sam stellt mir seine Patientin vor. Es ist die 21-jährige Mailing Yi, die zu den besten Sommeliers Chinas zählt. Mailing begann ihre Laufbahn als 14-Jährige in Chengsi. Dort arbeitete sie abends als Pediküre, die gut verdienende Expats aus Großbritannien und Kanada, welche für die großen Companies arbeiteten, in ihren Appartements besuchte. Untertags jobbte Mailing in einem Dim-Sum-Laden im Finanzdistrict. Ihre Spezialität: gefüllte Teigtaschen mit lebendig gegarten Minikrebsen, die dem Gast beim ersten Bissen in den Schlund hüpften. Die zweite Hälfte des Abends widmete sie dem Studium chinesischer und internationaler Weinliteratur. Ihre Eltern, die als Wanderarbeiter nach Shanghai gekommen waren, finanzierten ihr ein Fernstudium in Bordeaux, später in London.

Richards sagt: „Dieser Frau wird in meinen Labors am Genfer See in zwei Wochen die Nase eines Hundes implantiert."

Richards sagt: „Dieser Frau wird in meinen Labors am Genfer See in zwei Wochen die Nase eines Hundes implantiert. Genauer gesagt sind es die Riechzellen eines Mopses.“ Mit 14 kannte Mailing sämtliche Rotweinjahrgänge aus Frankreich und der Neuen Welt auswendig: Punktevergaben bei Parker und WineSpectator, Wetter, Durchschnittstemperaturen, Preise bei Versteigerungen bei Sotheby’s in London und Hongkong. Allerdings hatte sie noch kaum mehr getrunken als chinesische Châteaux aus Changyu. Mailings erster Job war Gläser-Polierin im Ultraviolet in Shanghai. Sie polierte täglich an die 400 Riedel- sowie 300 Zalto-Gläser. Das Besondere: Mailing roch den Wein, der in dem Glas getrunken wurde, bevor es in den Gläserspüler gewandert war. Und manchmal roch sie auch den Wein, der vor diesem Wein aus ebendiesem Glas getrunken wurde.

Mailing roch den Wein, der in dem Glas getrunken wurde.

Ihr erster Job als Sommelière im Ultaviolet im Shanghai ließ nicht lange auf sich warten. Ihr Boss, Head-Sommelier Tansy Zhao, zog sich ihren Hass zu, als er sie über ein halbes Jahr dazu verdonnerte, an den Tischen Dienst zu machen, wo reiche Chinesen mit ihren russischen Geschäftspartnern teure und die teuersten Bordeauxweine mit Coca-Cola mischten. Dabei mischten sie Figeac-Jahrgänge aus den 90er-Jahren bevorzugt mit Coca-Cola aus der Magnum, während zu Grand-Puy-Lacoste aus den Achtzigern sehr gerne Pepsi bestellt wurde. Africola und andere kleine Marken waren in Shanghai noch nicht so bekannt, wobei diese raren Marken wie auch Red Bull Cola gerne mit den Roten von Pascal Marchand oder Bonneau du Martray getrunken wurde. Doch Mailings Hass auf Tansy Zhao wuchs täglich, der sich die Tische mit den Premier Crus aus Bordeaux, den Toptop-Rotweinen aus Napa und den Großen Gewächsen von der Mosel und der Saar gesichert hatte. Für den Teil der Weinkarte mit den Weinen von Romanée-Conti war der deutsche Restaurantchef des Ultraviolet selbst zuständig.

Mailing spricht makellos Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch und ein paar Brocken Deutsch. „Mein Ziel ist, alle Wettbewerbe im Blindverkosten zu gewinnen“, sagt sie. Die letzten fünf Jahre war sie an der Spitze bei allen Wettbewerben in Singapur, London und New York.

„Mein Ziel ist, alle Wettbewerbe im Blindverkosten zu gewinnen.“

Die Heilung nach der Operation wird drei bis vier Monate in Anspruch nehmen. Danach muss Mailing das Riechen von der Pike auf lernen. „Sie wird die ersten Tage Probleme haben, einen Wein vom rechten Ufer von einem vom linken Ufer zu unterscheiden“, sagt Sam Richards.

In der Kantine des Chicago Memorial duftet es nach Ostern. Mailing sagt: „Der Patient muss vor zehn Tagen einen Lindt-Osterhasen verspeist haben. Ich rieche billige Schokolade, künstlichen Zucker und eine Überdosis Milch, außerdem war der Hase abgelaufen.“ Ich überlege, ob noch ein Schluck von dem Zirbengeist in der Jack-Wolfskin-Jacke übrig ist. „Wir sehen einander in Kürze“, sagt Sam Richards. „Am Ufer des Genfer Sees.“

Als Mailing mit ihren weltweit vernetzten, jungen Weinkolleginnen das Netzwerk #winemetoo gegründet hatte, war ihr klar geworden, dass der männlichen Konkurrenz nur mit Verve und Ideenreichtum beizukommen wäre.

Nach der OP muss sie das Riechen von der Pike auf lernen.

Ihrem Chefsommelier Tansy schüttete sie eines Abends Säure in den Tee. Er verätzte sich Gaumen und Zunge und durch den retronasalen Effekt einen großen Teil seiner Riechzellen. Die Karriere war zu Ende. Als Mailing seine Position einnahm, prostete sie ihm ein letztes Mal im Geiste zu. Mit einem Glas Château Pétrus Coke Zero, das ein chinesischer IT-Milliardär übrig gelassen hatte. Inzwischen lief #winemetoo gut an, viele ältere Sommeliers in Paris mussten von ihren Positionen zurücktreten, weil sie beschuldigt wurden, junge, hübsche Jungsommelières im Büro gezwungen zu haben, an ihren intimen Körperstellen zu riechen und dann zu raten, welchem Naturwein aus dem Jura oder der Steiermark der Geruch am nächsten kam.

„Die Riechzellen des Mopses, es gab eine Abstoßungsreaktion. Wir haben kämpfen müssen!“

Drei Monate später. Ich bin im Beau Rivage in Lausanne eingecheckt und mache mich auf zu den Labradoirs de Lac Léman bei Montreux, wo Sam Richards und andere Spitzenmediziner an der Medizin von morgen arbeiten. Richards empfängt mich mit den Worten: „Es war eine Operation über 36 Stunden. Die Riechzellen des Mopses, es gab eine Abstoßungsreaktion. Wir haben wirklich kämpfen müssen.“ Der Mops stammte von einer Zahnärztin aus München, die in Kitzbühel beim Sonnenski mit einem Pistengerät zusammengestoßen war.
Der Mops, eigentlich eine Mopsdame mit dem Namen Sissi, den sie in einem Brustrucksack am Körper festgezurrt hatte, war sofort klinisch tot. Sissi wurde mit einem Helikopter, Sissis Kopf auf Eis gekühlt, nach Montreux geflogen, wo Mailing und Sam in einem vollkommen geruchsfreien OP-Saal auf sie warteten.

"Mein Geruchs-vermögen hat sich vertausendfacht.“

„Mailing hat sich ihre eigenen Riechzellen tiefkühlen lassen, für den Fall ...“, sagt Richards. Die paar Stunden ohne Riechschleimhaut waren ihr, wie sie später erzählt, intensive Momente der Transzendenz, eine bewusstseinsverändernde Erfahrung, als sie im Café de Labradoirs an einem Chardonnay vom Gantenbein 2016 schnüffelte und dabei genau nichts roch.

Ich treffe Mailing, Sam Richards kommt dazu. „Hallo Claas, welchen Wein hatten Sie gestern Abend?“, fragt sie mich. „Ich tippe auf Château de Pez aus Saint-Estèphe. Das Jahr 1989.“ Ich blicke sie ungläubig an. „Ich erkenne es nicht an Ihrem Mundgeruch, sondern aus der Ausdünstung aus Ihren Achseln“, sagt Mailing. Tatsächlich, ich hatte am Tag vor meinem Besuch in den Labradoirs Pez zum Lunch. Gerade wird das Frühstück im Speisesaal der Labradoirs abgeräumt. Das Gesicht von Sam Richards ist ein Müsli aus Stolz und Freude. Er
sagt: „Der Patientin geht es gut. Sie roch bereits am Morgen nach der Operation die Billigshampoos aus dem Gemeindebau eines Vorortes, der drei Kilometer entfernt liegt.“ Mailing nickt und sagt: „Ein kleines Ziehen in der Nase beim Niesen, das ist es, was mich hie und da stört. Mein Geruchsvermögen hat sich vertausendfacht.“

Ekaterina Koroleva

Mailing kann jetzt alles riechen, was in der Umgebung von Montreux und darüber hinaus getrunken wird. Wird im Basler Cheval Blanc ein Cheval Blanc dekantiert, sie riecht es. Korkt der Cheval Blanc, sie riecht es. Öffnet einer der reichen Bewohner der teuren kleinen Schlösschen und Villen rund um den Genfer See eine Flasche Fendant, sie riecht es. Ist der Wein zu warm und riecht alkoholisch, breit und süß, es entgeht Mailing nicht.

Ich treffe Mailing ein paar Monate später bei einem Sommelier-Contest in Hongkong. Während draußen die Hongkong-Chinesen zum wiederholten Mal gegen die von China installierte Stadtverwaltung auf die Straße gehen, steht Mailing Yi vor drei Dutzend blind servierten Weinen, die sie in einer Minute erraten muss. Ein Malbec aus Südfrankreich, ein Chardonnay aus Mâcon, ein Gewürztraminer aus Südafrika, ein Cabernet Sauvignon aus Sonoma County. Die Jury des Wettbewerbs wirkt unkonzentriert. Als sie hörten, dass Mailing an dem Contest teilnehmen würde, haben alle anderen chinesischen Spitzensommeliers ihre Teilnahme abgesagt. Der Wettbewerb gerät zur Farce.

Im New Yorker Le Bernardin feiert Mailing mit ihren amerikanischen #winemetoo-Freundinnen ihren 22. Geburtstag. Ich darf als einziger Mann mit an den Tisch. Head-Sommelier Aldo Sohm hat sich für den Tag frei genommen. Nachdem Mailing zwei Dutzend Crémants de Bourgogne und 48 Winzerchampagner blind erkannt hat, geht es ans Bestellen. Und dann passiert Seltsames.

Sie steht auf und beschnüffelt Mitarbeiter und Gäste.

Mailing muss mehrmals so ungeheuerlich niesen, dass die Gäste an den Nebentischen des Le Bernardin aufmerksam werden. Dann steht sie auf und läuft durch das Lokal und beschnüffelt die Mitarbeiter des Service und auch die Gäste.

Ich treffe Mailing ein letztes Mal in Shanghai. Sie ist auf längeren Besuch in der Wohnung ihrer Eltern: Es ist früher Nachmittag. Mailings Mutter sieht eine Sitcom im Fernsehen. Aber weil sie schlecht hört, versteht sie die Dialoge nicht. Mailing selbst liegt auf einer Hundedecke. Sie beschnüffelt eine Dose, in der Hundefutter aufbewahrt wurde. Und Mailing sagt: „Eindeutig Rind- und Schweinefleisch aus dem Kanton Szechuan. Man merkt es an der pfeffrigen Note.“