Darf ich vorstellen, das ist mein Flachmann. Er ist relativ klein, silbern und rund. Ganz glatt ist er und geschmeidig, ein Handschmeichler sozusagen. Erstanden habe ich ihn in der Kilchoman Distillery auf der westlichen Hebrideninsel Islay, vor etwa fünfJahren. Das ist keine Werbung für den Whiskybrenner, denn um die Bindung zwischen ihm und mir zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, dass die Kilchoman Distillery tatsächlich am Ende der Welt liegt. Nachdem ich dort also nach sechs Stunden Fußmarsch und sechs Litern Schweißverlust ankomme, mit Whisky und Shortbread aufgepäppelt werde, Destillerie angucke, weiter trinke, Menschen zuhöre, tut ein Flachmann not. Wissend, dass die sechs Stunden und Liter zurück dieselben sein würden, füllt man mir jenen wohlwollend auf. Nach etwa einer Stunde Heimweg sitzt da ein Bulle der Größe eines Dreifamilienzeltes auf dem Weg, guckt und schnaubt. Der war da vorher noch nicht.
Links und rechts geht’s ins Loch Gorm und die Bestie muss mir irgendwie Platz machen. Sein Ring in der Nase vibriert beim Atmen und ich erinnere mich an den Flachmann. Ich habe Zeit und der Whisky schmeckt. Es ist der „Machir Bay“ und sein Wasser kommt tatsächlich aus dem Loch Gorm. Ich gucke auf den See und denke, dass ich gerade das deutlich bessere Stadium seines Wassers trinke. Der Bulle schnaubt lauter und irgendwie wirkt er unzufrieden. Vielleicht will er auch Whisky, ich würde das verstehen. Ein paar Schritte auf ihn zugegangen, werden wir beide deutlich nervöser. Er steht auf und ich denke an meine Freunde und Familie. Daran, dass ich sie lieb habe, aber immerhin meine Steuererklärung nicht mehr machen würde müssen. Daran, dass es beschissenere Tode gibt und dass ich hoffe, jemand kümmere sich um meine Pflanzen.
Ich kippe derweil ein wenig Whisky in eine Pfütze vor dem Bullen, er bückt sich, leckt das Wasser und glotzt mich an. Mit seinem Nasenring, der mir locker um den Hals gepasst hätte, stupst er meine Hand mit dem Flachmann an und ich gieße noch mehr aus. Wir verstehen uns. Nach dieser Pfütze hat er genug, läuft schnaubend an mir vorbei, ich verstehe „thanks, you’re welcome“ und gehe weiter. Am Strand vor meiner Wohnung in Port Ellen angekommen, nehme ich einen letzten Schluck aus dem neuen Flachmann und mein alter Freund Ian McKenzie nimmt neben mir Platz. Ian McKenzie ist ein Schaf, kommt jeden Abend bei mir vorbei, setzt sich zu mir und trinkt mit mir ein Bier. Er sagt nichts und das schätze ich an ihm. Heute ist es der Whisky, den wir gemeinsam trinken, und ich gieße ihm einen Schluck in meine Müslischale. McKenzie schmeckt’s.
Wieder zu Hause angekommen, steht der Flachmann erst einmal herum. Das tun Flachmänner so, wenn man nicht Wandern, auf Reisen oder in den öffentlichen Verkehrsmitteln über die Maßen ungeduldig und angespannt ist. Bin ich nicht; oder gebe ich nicht ausreichend zu, um einen Flachmann mitzuführen. Allerdings fallen Flachmann-Notwendigkeiten auch im Inland an. Ein Wagner-Abend zum Beispiel, "Der Ring des Nibelungen", die Tetralogie am Stück. Ganz ehrlich, wer das ohne Notfalloliven und Flachmann angeht, ist selbst schuld.
Dieser Gegenstand schreibt Geschichte - dafür liebe ich ihn.
Spätestens, also allerspätestens nach der „Walküre“ dürstet es mich nach einem kräftigen Schluck Laphroaig. „Wer meines Speeres Spitze fürchtet, durchschreite das Feuer nie“, heißt es und ich durchschreite bereits die Tür der Deutschen Oper, hinaus auf den warmen Beton Westberlins, wo mein Kumpel und ich über Wesen und Unwesen von Familie und Blut und Wasser reden. Und ich erzähle ihm die Geschichte von meiner Mutter, der mein Flachmann das Foto ihrer Pragreise ermöglichte. Es war nämlich so, dass die, selbst Fotografin, ausgestattet mit Angststörungen, in Prag vom Altstädter Rathaus hinunter fotografieren wollte, als sie bemerkte, dass es nach oben hin nun doch etwas zu hoch und zu schmal wurde – wie Turmspitzen das eben so an sich haben.
Der quadratische Pflastersteintunnel nach oben umgibt eine in sich verschlungene Metallspirale, die – und das muss man wohlgemerkt eingestehen – nicht dabei hilft, Schwindel zu vermeiden.
Auf halber Strecke hielt sie sich an dem kalten Geländer fest, welches leider wiederum den Blick nach unten freigibt. Die Schweißperlen drängten an ihre Hautoberfläche und es ging nicht mehr weiter, weder weder vor noch zurück.
Nach drei Schluck hatte sich das Herzrasen gelegt.
Beinah hätte ich den Flachmann vergessen, aber in der rechten Außentasche meines Rucksacks, da war er. Ist er immer. Gefüllt mit einem selbstgebrannten Gin, der leider an einem zu leidenschaftlichen Griff in den Koriandersack und dadurch ungenießbaren Seifennoten litt. Aber darum ging es nicht, denn manchmal geht es sehr klar um lediglich ’nen Klaren. Also reichte ich meiner Mutter den Flachmann.
Nach drei Schluck hatte das Herzrasen sich gelegt, sie wischte ihren Schweiß von Stirn und Kamera und weiter ging’s. Einen letzten Schluck vor dem Tritt ins Freie auf dem Turmbalkon und ihr Foto war im Kasten. Die „Krušovice“-Reklame auf den Büdchendächern, das Jan-Hus-Denkmal, alles drauf. Jugendstil, eigentlich ähnlich dramatisch wie Wagner, wirft meine Begleitung ein. Bisschen filigraner, nicht so brachial.
Die „Krušovice“-Reklame auf den Büdchendächern, das Jan-Hus-Denkmal, alles drauf. Jugendstil, eigentlich ähnlich dramatisch wie Wagner, wirft meine Begleitung ein. Bisschen filigraner, nicht so brachial. Apropos brachial und filigran – selbigen Freund treffe ich einen Monat, nach akutem Ende seiner Beziehung, wieder, zufällig und am Kottbusser Tor. Ich komme gerade von einer Reise und habe ihn daher dabei, außen rechts. Dieser Gegenstand schreibt Geschichte und dafür liebe ich ihn.