Die Österreicher waren von ihrem ehemaligen Bundeskanzler oft irritiert. Der Grund dafür war nicht etwa seine Politik, da stimmten sie mit ihm mehrheitlich überein. Es lag an etwas viel Ungeheuerlicherem: Kurz trinkt keinen Alkohol. Damit macht er sich verdächtig, nach dem Motto: „Wer nicht sauft, der wird in Österreich nicht braucht“. Dieser Vertrauensverlust steht für den sozialen Stellenwert, den Alkohol sicher nicht nur in der österreichischen Gesellschaft einnimmt. Mit Abstinenzlern will man im Grunde nämlich genauso wenig zu tun haben wie mit Alkoholikern. Der Alkoholiker ist schwach und würdelos. Der Abstinenzler provoziert allein durch seine alkoholische Unbeflecktheit. Damit macht er die eigene Unzulänglichkeit sichtbar und das ist schlicht unsympathisch. Man selbst hat den Alkohol freilich im Griff. Säufer sind immer die anderen.
Über jeden Verdacht erhaben ist nur der sogenannte Genusstrinker. Dieses Wort klingt bedeutend, bedeutet aber genau nichts. Genießen kann jeder schließlich so gut wie alles. Und das auch noch grenzenlos. Die Liebe zum Genuss macht blind wie jede Liebe. Was aber, wenn die Liebe zum Alkohol zu Ende geht?
„Jetzt trink doch endlich mal was, verdammt noch mal!“
Auf der Suche nach auskunftswilligen Abstinenzlern gehe ich im Kopf zunächst meinen Freundeskreis durch. Nein, die saufen alle noch. Dann fällt mir Lars ein. Der ist doch so einer wie Kurz, denke ich. Auch so ein irritierender junger Mann, was seine Abstinenz betrifft. Lars ist 24 Jahre alt und hat seit sechs Jahren, also seit seinem 18. Lebensjahr, keinen Tropfen Alkohol getrunken. Ich muss zugeben, dass auch mich dieser Umstand zu Beginn unserer Freundschaft schon so manches Mal unrund machte. Und ich mir insgeheim dachte: „Mensch Lars, jetzt trink doch endlich mal was, verdammt noch mal!“ Hinterfragt habe ich diesen Gedanken nie, bis zu unserem Gespräch. Auf das Lars übrigens nicht so richtig Bock hat. Zu oft muss er seine Story erzählen. So wie letztens in der Bar. Ein Mädchen steht neben ihm am Tresen, als er sich eine Cola bestellt. „Du bist wohl der Fahrer, oder?“, fragt sie. „Nee“, antwortet Lars einsilbig. „Ach so, du trinkst heute einfach nichts. Oder trinkst du generell nicht?“
„Ja, genau“, murmelt er. „Warum denn, was ist mit dir?“, fragt dasMädchen fassungslos. „Das ist halt immer gleich ein sehr ernster Gesprächsbeginn. Man muss sich erklären oder rechtfertigen“,sagt Lars zu mir und verdreht gelangweilt die Augen. Dabei sei er doch gar nicht dogmatisch, sondern ein ziemlich lockerer Typ. „Mir ist es egal, ob die Menschheit Alkohol trinkt oder nicht.“
Könne es nicht einfach normal sein, nicht zu trinken?
Die Warum-Frage scheint bei Lars einen wunden Punkt zu berühren. Selbstheilungsversuch, lautet die Antwort. Mit 16 schlitterte Lars in eine depressive Phase. Unglücklich verliebt und sein Bruder ging in die USA. Also hatte er niemanden zum Reden, seinen Freunden ging es damals nur darum, sich die Birne wegzuknallen. Auch Lars hatte seinen ersten Vollrausch mit 14, so ist das halt, wenn man auf dem Land aufwächst.
Man weiß lange nicht, wie viel man verträgt, jedes Mal übergibt man sich, aber man macht weiter. Der jugendliche Lars begann dann, schrittweise alles aus seinem Leben zu eliminieren, was er als schädlich empfand. Den Computer, seine alten Kindersachen, sein Handy. Und den Alkohol.
Sich als Alkoholiker zu outen ist ein langer Kampf.
Er mutierte zum Jesusfreak, wollte die Zehn Gebote einhalten und kasteite sich selbst mit Bibellektüre. Auf seiner Abiturfeier hat er dann das letzte Mal was getrunken. Es war nie wirklich schwierig für ihn, den Alkohol aufzugeben. „Im Nachhinein weiß ich, dass der Alkohol für mich vor allem ein soziales Problem war. Nicht der Alkohol selbst, sondern die Kultur, die mit dem Alkohol einherging. Wir ließen uns einfach immer nur volllaufen und redeten nicht wirklich miteinander.“
Jesus ist inzwischen verschwunden, der Verzicht ist geblieben. Wie ein alter Pulli, den Lars aus Gewohnheit immer noch trägt. Ob er sich vorstellen kann, irgendwann wieder Alkohol zu trinken? Ja, das kann er. Vielleicht was Erfrischendes wie Radler oder weißen Spritzer.
Vermisst er denn auch was ohne Alkohol? Ja, auch das.
Sich ein Rauschmittel zuzuführen, das ihn aus seinem Alltag herausholt und quasi auf Knopfdruck ausgelassen macht. Dass man betrunken vermutlich eine krassere Party hat als nüchtern. Schade aber, dass Feiern so eng mit Alkohol verbunden ist, findet er. Irgendwas Destruktives gehöre schon dazu, das habe er inzwischen gecheckt. „Deshalb rauche ich manchmal“, gibt er zu. „Aber ich glaube, ich würde nur aus einem Grund wieder anfangen, Alkohol zu trinken.
Damit ich mir selbst gegenüber nicht immer aufrecht erhalten muss, dass ich jemand bin, der nicht trinkt. Ach, ich halte das schon aus. Eigentlich ist es nur dann schlimm, wenn ich darüber reden muss.“ So wie jetzt? „So wie jetzt!“ Wir lachen.
Was andere von seiner Abstinenz halten, lässt Lars letztlich aber kalt. Es geht um den wunden Punkt. Und der ist das Gefühl, allein am Rand zu stehen, abseits der Norm. Im Grunde ist also auch der Verzicht ein ein soziales Problem: „Alkohol ist ein für Gemeinsamkeit. Was verbindet Leute, die abends in eine Bar gehen? Nicht, dass sie alle Menschen sind, oder dass sie alle in der Stadt wohnen. Sondern dass sie in dieser Bargemeinsam was trinken. Wenn jemand nicht trinkt, ist er erst mal draußen aus dem Gemeinschaftsding. Dann muss er psychologisch kämpfen, um sich wieder reinzubringen in die ganze Sache. Und das macht es so anstrengend. Es ist ja einriesiges Bestreben, dass alles normal ist.“
Die Rentnerin und der Whisky
Das Ende einer Liebe war für Teresa auch das Ende der Liebe zum Alkohol. Teresa ist Alkoholikerin und seit 28 Jahren trocken. Ihren Kontakt habe ich über die Anonymen Alkoholiker bekommen. „AA“, sagt man dazu in der Szene nur. Wir verabreden uns in einem Lokal. Teresa sitzt in einer ruhigen Ecke, vor sich eine Tasse Kaffee. Zwei wache blaue Augen mustern mich durch eine Brille, schnell prüft die 78-jährige Rentnerin mit einer leichten Handbewegung den Sitz ihrer Dauerwelle. Wir plaudern kurz über Alltägliches, dann beginnt Teresa völlig selbstverständlich, mir ihre Geschichte zu erzählen. So, als ob sie einer alten Freundin von ihrem Tag berichtet. Man merkt ihr an, dass sie ein alter Hase darin ist. Alles fing also damit an, dass ihr heutiger Ex-Mann ihr offenbarte, dass er sich selbst finden müsse und deshalb für ein halbes Jahr ausziehe. Nach 22 Jahren Ehe, das muss man sich mal vorstellen.
Ihr Mann war Arzt und Teresa arbeitete an den Nachmittagen neben Haus, Kind und Hund als Sprechstundenhilfe in seiner Praxis. Als der Moment seiner Beichte kam, dachte die gelernte Kindergärtnerin zunächst an eine harmlose Midlife-Crisis und ließ ihren Mann vertrauensvoll ziehen.
"Ich musste einen Schlussstrich ziehen!"
Doch schon nach wenigen Monaten begann sie zu leiden:„Ich saß ja weiterhin jeden Nachmittag mit ihm in der Ordination und abends dann allein in dem riesigen Haus, wo nur der Hund auf mich wartete. Um das ein wenig zu vergessen, fing ich an, Martini mit Gin zu trinken. Und irgendwann hat sich der Schalter hier oben umgelegt“, sagt sie und zeigt auf ihren Kopf. Als das halbe Jahr um war, stellte Teresa ihren Mann vor ein Ultimatum: Wenn er nach dem Urlaub nicht wieder nach Hause komme, dann sei sie nicht mehr da. „Das hat er nicht geglaubt, und ich auch nicht. Aber ich musste endlich einen Schlussstrich unter all das ziehen“, erzählt Teresa mit entschlossener Miene und zupft ihre geblümte Bluse zurecht.
Teresa ging also tatsächlich alleine in eine andere Stadt und fand einen Job in einer Arztpraxis. Sie ließ sich von ihrem Mann scheiden und fing sich wieder einigermaßen, trank zumindest nicht mehr täglich. Doch Teresa ist ein Landmensch und so kehrte sie nach einigen Jahren in die Kleinstadt in das Haus zurück, das sie schon vor ihrer Ehe von ihren Großeltern geerbt hatte. Sie bekam eine Stelle in einem Labor angeboten, aber nach der Arbeit war sie wieder allein, mit dem Glas in der Hand. „Ich war nie eine Gesellschafts-Trinkerin, hockte nicht im Gasthaus. Ich trank nur abends zu Hause, heimlich aber unheimlich.“
Teresa grinst über ihr Wortspiel. "Und irgendwann nur mehr Whisky. Wenn mir andere Alkoholiker erzählen, dass sie geben Ende bis zu 25 Bier getrunken haben, dann graut es mir. Gäbe es nur Bier auf der Welt, ich wäre nie zur Alkoholikerin geworden", platzt es aus ihr heraus und sie lacht schallend. „Aber“, lenkt sie ein, „am Schluss hat mir der Whisky nicht mehr geschmeckt. Ich wollte mich nur noch betäuben.“ Es fing an, ihr auch körperlich schlecht zu gehen. Dem Hausarzt gegenüber wollte sie trotz miserabler Blutwerte nicht zugeben, dass sie Alkoholprobleme hatte.
Kein Alkoholiker wolle das, sagt Teresa. Nur durch einen glücklichen Zufall kam es dazu, dass sie kurze Zeit später im Entzug landete: „Ich hatte einen Schutzengel. Die Vertretung meines Hausarztes fand meine Befunde auf dem Schreibtisch und stand plötzlich bei mir vor der Haustüre. Nachdem ich heulend vor ihr zusammenbrach, besorgte sie mir für den übernächsten Tag ein Bett in der Entzugsklinik.“ Fünf Wochen blieb Teresa dort und machte das ganze Programm anstandslos mit. Doch einige Zeit nach ihrer Entlassung begann sie langsam wieder an Alkohol zu denken. Im Gegensatz zu anderen Alkoholikern hatte Teresa ihre Hausbar nach dem Entzug nicht weggeräumt: „Ich war stur, ich dachte, ich hätte bereits alles überwunden und wollte meinen Gästen weiterhin einen Schnaps anbieten können.“
Daraufhin suchte Teresa zum ersten Mal aktiv Hilfe und bekam die Nummer eines Anonymen Alkoholikers. Er lud sie ein, sich so ein „Alki-Treffen“ einmal anzuschauen. „Oh Gott“, dachte sich Teresa, „da kommen nur die, die ganz unten sind, die im Park schlafen.“ Zu ihrer großen Überraschung saßen dort aber dann zwanzig sehr gepflegte Leute im Raum, es gab Kaffee und Kekse. „Anfangs dachte ich noch, ich bin in einer Sekte. Ständig war von Gott und einer höheren Macht die Rede. Bis ich gemerkt habe, das ist keine Sekte, sondern es sind wirklich alles nur Betroffene.“ Gott spiele für sie keine große Rolle, sie glaube vor allem an sich selbst. Seit diesem Tag nimmt Teresa einmal wöchentlich an den Meetings der AA teil, dank derer sie nach sechs Jahren Trinkerei und ihrem Entzug in der Klinik bis heute trocken geblieben ist. Sie erzählt, dass ihre Tochter sie erst vor Kurzem fragte, warum sie nach all den Kahren immer noch dorthin gehe. "Um nicht zu vergessen, wer ich bin", sagt sie mir und hat plötzlich Tränen in den Augen. „Und aus Dankbarkeit, dass ich es geschafft habe“, fügt sie hinzu und sucht hastig in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch.
Sich seinen Mitmenschen gegenüber als Alkoholiker zu outen, ist ein langer Kampf. Und dauert meist noch viel länger, als es sich selbst einzugestehen. Zu groß ist die Scham. Bei gesellschaftlichen Feiern zum Beispiel. Was für normale Menschen Anlass zur Freude ist, ist für den Alkoholiker ein sich laufend wiederholendes Drama. Manche geraten deshalb sogar regelrecht in Panik. Ständig sucht man Ausreden und überlegt sich Tricksereien, sobald einem jemand ein Glas Wein in die Hand drücken will. Habe Magenschmerzen. Muss Tabletten nehmen. Man füllt sich heimlich Wasser ins Schnapsglas oder Apfelsaft ins Weinglas.„Als ich drei Jahre trocken war, wollte ich endlich Schluss machen mit dem Blödsinn. Seitdem sage ich, dass ich mal Probleme mit dem Trinken hatte und damit in Ruhe gelassen werden will. Aber das braucht Zeit, man geniert sich“, vertraut mir Teresa an.
Ein Bekannter aus dem Kreis der Anonymen Alkoholiker ließ sich zur Hochzeit seiner Tochter zu einem Glas Sekt überreden. Und sofort steckte er über ein Jahr lang wieder im tiefsten Sumpf. „Deshalb muss man auf alles verzichten, wo Alkohol drin ist“, sagt Teresa, „oder drin sein könnte.“ Teresa riecht sogar die über Nacht in Rum eingelegten Rosinen im Apfelstrudel heraus: „Wenn ich den esse, bin ich morgen wieder verloren.“
Verbindet Teresa den Alkoholverzicht denn nie mit einem Verlustgefühl? Nein. Doch. Ein einziges Mal wurde die ehemalige Whisky-Liebhaberin wehmütig. Das war zu ihrem 60. Geburtstag in New York. Ihre Schwester und deren Mann wollten ihr dort unbedingt eine Bar zeigen, die man gesehen haben musste.
Bedeutet Alkoholverzicht auch Verlustgefühl?
Vor der Tür der besagten Bar stand eine lange Warteschlange und es hieß warten, bis einen der Barkeeper persönlich einließ. Teresa verlor schnell die Geduld, drängelte sich vor und sagte selbstbewusst: „I am just looking for my husband!“ Schon kam sie rein und schaute sich in der Bar um. Plötzlich war da eine riesige Wand voll mit den herrlichsten Whiskys. Ich Idiot, dachte sie, könnte ich die doch alle nur verkosten! „Meine Güte!“, sagt sie kichernd und rührt in ihrem Kaffee, „da hat’s mir echt leid getan. Aber vielleicht ja im nächsten Leben.“
In diesem Leben geht das nicht mehr. Denn da ist stets auch die Angst der Angehörigen. Letztens hat sie am Glas Rotwein ihrer Tochter gerochen. Und es sofort wieder hingestellt, als sie deren Furcht geweitete Augen sah. Kein Wunder, Alkoholiker sind laut Teresa Meister im Lügen und Verheimlichen. Ihre Alkoholvorräte versteckte sie selbst an eher klassischen Orten. Im Küchenkasten, hinter der Waschmaschine im Keller, in der begehbaren Garderobe. Andere haben da schon mehr Fantasie. Etwa ein Versteck im Toilettenspülkasten, so ist das Bier schon vorgekühlt. „Es ist furchtbar, wie man als Mensch wird. Man ist kein Mensch mehr. Der ganze Tagesablauf dreht sich nur darum, wo kaufe ich ein, wo verstecke ich, wo entsorge ich“, erzählt Teresa und schüttelt den Kopf.
Wo verstecke ich, wo entsorge ich?
Besonders schwierig sei das in einem kleinen Drecksnest wie dem ihren, wo man beobachtet wird. Dort gab es damals nur ein Geschäft und noch keine Glascontainer. Abends fiel sie betrunken ins Bett und jeden Morgen vor der Arbeit joggte sie eine dreiviertel Stunde mit ihrem Hund, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Oft machte sie sich am Abend für den nächsten Tag Notizen, um Dinge nicht zu vergessen. Irgendwann konnte sie am nächsten Tag nichtmal mehr ihre eigene Handschrift entziffern. „Das kann’s doch nicht sein“, dachte sie damals und versuchte mehrmals alleine aus diesem Kreislauf auszubrechen. Im Kalender ließ sie die Tage frei, an denen sie nicht trank. Jeder dieser Tage war ein schrecklicher Kampf. Ein Tag nicht trinken, zwei Tage nicht trinken und dann schüttete sie doch wieder alles in sich hinein.
Bald markierten Punkte wieder jeden Tag in ihrem Kalender. Sie isolierte sich fast völlig, ging nirgends mehr hin, redete sich heraus, wenn sie wo eingeladen wurde. In dieser Zeit hat sie viele Freunde verloren. Auch weil sie deren gut gemeinte Ratschläge nicht mehr hören wollte. „Freunde und Familie können dir nicht helfen. Die wissen nicht, wie das ist, du sollst einfach aufhören zu saufen“, erinnert sich Teresa. Heute ist sie wieder so gesellig wie früher, als sie mit ihrem damaligen Mann wilde Feste feierte. Sie feiert immer noch gerne, nur eben ohne Alkohol. Sie sagt, dass das gehe. Auf dem Tisch tanzt sie zwar inzwischen nicht mehr, aber das liegt nur an den operierten Hüften.
Himbeersoda! Oder wie man nur für heute das erste Glas stehen lässt
„Manchmal weiß man nicht, was man noch trinken soll“, sagt Kurt schmunzelnd und nippt wenig begeistert an einem Glas Himbeersoda. Wir sitzen im Gastgarten eines dieser seelenlosen und Tristesse ausstrahlenden Wiener Wirtshäuser. Komischer Treffpunkt für trockene Alkoholiker. „Eine typische Trankler-Hüttn“, liest der sechzigjährige Kurt meine Gedanken. Vielleicht ist es die Macht der Gewohnheit, auch wenn sie wie bei Kurt schon zwanzig Jahre zurück liegt. Ihm sitzt die 51-jährige Sandra gegenüber und dreht sich mit leerem Blick eine Zigarette. Still und zurückhaltend, ist sie das totale Gegenteil von Kurt. Beide sind wie Teresa Anonyme Alkoholiker.
Komischer Treffpunkt für trockene Alkoholiker.
„Letzte Woche ist meine Mutter gestorben, da hätte ich mir früher sofort was eingeschenkt. Heute rufe ich einen Freund von den AA an“, sagt Kurt und dämpft sofort seine Stimme, als sein Blick auf den besetzten Nachbartisch fällt. Vielleicht doch nicht der passende Ort für unser Gespräch. Wir wechseln in die Räumlichkeiten der AA zwei Häuser weiter, später wird hier ein offenes Meeting stattfinden. Auf dem Weg dorthin sprudelt es weiter aus Kurt heraus. Sexueller Missbrauch mit 14, Magenblutungen, Schlaganfall, Scheidung, Verfolgungswahn, Suizidgedanken. „Schön“, murmelt Sandra lakonisch und zeigt auf einen mit Blumen bepflanzten Sandkasten im Hof des Gemeindebaus.
Als Kurt die Tür der Kontaktstelle der AA aufsperrt, kommt uns kalter Zigarettenrauch entgegen. Er drückt auf den Lichtschalter, Neonlicht flimmert, mein Blick fällt auf einen großen Stofftigerin der Ecke. Herkules, das Maskottchen. Die Wände sind gespickt mit Infomaterial und Broschüren, im Eck ein Bild der beiden US-amerikanischen Gründer der AA, Börsenmakler „Bill W.“und Arzt „Dr. Bob“, flankiert von einer Vase mit Sonnenblumen aus Plastik. Wir setzen uns an einen Tisch im Nebenraum, meine Gastgeber packen ihre Zigaretten aus. Hier gibt es kein Himbeersoda, wir trinken Wasser. Kurze Stille.
„Mein Name ist Sandra, ich bin Alkoholikern“, beginnt sie, wie es auch in den AA-Meetings üblich ist. Scheinbar emotionslos erzählt Sandra, wie der Alkohol sie 34 Jahre lang begleitete und Schritt für Schritt ihr Leben zerstörte. Wie sie einmal so blau war, dass sie einen Autounfall baute, Fahrerflucht beging und nicht einmal bemerkte, dass sie dabei ihre Stoßstange am Tatort verlor. Bis die Polizei vor ihrer Tür stand. Sie erzählt, wie sie irgendwann nicht mehr in die Arbeit ging, um dem Einfluss ihrer trinkenden Kollegen zu entkommen, dann vom Amtsarzt in die Psychatrie eingeliefert und schließlich wegen Dienstunfähigkeit in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde. Wie damit alles noch schlimmer wurde. Sie berichtet von ihren mehrmaligen Versuchen aufzuhören, von ihren Psychosen und Panikattacken während des Entzugs, von ihren Rückfällen. Niemand konnte ihr helfen. Bis sie von den AA erfuhr. Seit drei Jahren ist sie jetzt trocken. „Gesellig und lustig war’s schon. Und alles war leichter. Bloß wenn aus einem Glas jedes Mal sieben Gläser werden, ist es eben nicht mehr lustig. Ein Alkoholiker kann nicht kontrolliert trinken.“
Kurt war immer ein Lebemensch und arbeitete jahrelang in der Gastronomie, deshalb war die Versuchung ständig präsent. Der Griff zum Glas wurde jedoch mehr und mehr zur Flucht. Vor dem Minus am Konto und den Eheproblemen. Irgendwann wechselte er als Bediensteter zur Gemeinde, in dem Glauben, dass dort nicht getrunken werde. Im Gegenteil. Einmal war Kurt schon so weit, sich umzubringen und zerstieß verschiedene Tabletten in einem Mörser. Zu diesem Zeitpunkt war er erst kurze Zeit trocken. Dann bekam er doch Angst und ging stattdessen ins Meeting. Durch die AA habe er wieder echte Lebensfreude gewonnen. Kurt beendet fast keinen Satz, ohne die Anonymen Alkoholiker und ihre Grundsätze zu erwähnen. Während er spricht, blickt er immer wieder auf die Tafel mit den zwölf Schritten und zwölf Traditionen der AA, die hinter mir riesengroß an der Wand hängt. Wie, um sich den Segen jenes Gottes zu holen, der in den meisten der 24 Sätze in irgendeiner Form auftaucht. Auf mich wirkt das ein bisschen wie Gehirnwäsche, aber das muss wohl so sein. Ob man mit Gott etwas anfangen könne oder nicht, sei letztendlich nicht so wesentlich. Es gehe nur darum, sich selbst gegenüber ehrlich zu sein, sich selbst kennenzulernen, meint Kurt. Und das Wichtigste: Nur für heute das erste Glas stehen lassen. Mehr muss man nicht tun. Dann kommen keine weiteren. Bei den AA lernt man, dass lediglich die Gegenwart zählt. Die Vergangenheit ist vorbei und was in der Zukunft kommt, weiß niemand. Aber jetzt ist es Zeit, in den großen Raum zu gehen, das Meeting fängt gleich an.
Als ich das Meeting betrete, bin ich überrascht. Es ist wie in einer U-Bahn, so unterschiedlich und willkürlich zusammen gewürfelt sind die Anwesenden. Eine dunkelhaarige Frau mit rotem Lippenstift begrüßt die Runde und kündigt mit einem prüfenden Blick zu mir an, dass heute jemand von den Medien da sei. Das Lächeln verschwindet aus einigen der Gesichter am Tisch. Wie die Zeitschrift denn heiße?, fragt sie skeptisch. „SCHLUCK“, antworte ich. Anhaltendes Gelächter.
Was ich höre, berührt mich sehr. Besonders die schonungslose Ehrlichkeit, mit der hier über sich selbst gesprochen wird. Jemand sagt, dass er nicht wegen des Programms der Anonymen Alkoholiker seit Jahren zu den Meetings komme, sondern deshalb, weiler nur hier wirklich er selbst sein könne. Und nur hier akzeptiere man, wer er sei. Gegen Ende des Meetings schildert meine Sitznachbarin, eine attraktive Frau Anfang dreißig, die Reaktion einer guten Freundin, als sie ihr gestand, zu den Anonymen Alkoholikern zu gehen. „Was?“, lachte die Freundin auf. „Du bist doch keine Alkoholikerin? Sonst wären wir doch alle Alkoholiker!“