Ich musste da durch: Das erste Mal hörte ich den Namen Lambrusco im Alter von zwanzig Jahren, als uns vom Pizzalieferdienst eine Flasche des „Perlenden Roten“ aufs Haus mitgebracht wurde. Lambrusco auf Haus, das perlende Böse. Ein roter Wein mit Kohlensäure? Meine anfängliche Irritation schlug auch im weiteren Verlauf des Abends nicht in Begeisterung über. Das war Ende der Nullerjahre, und der Markt zu dem Zeitpunkt schon so oft überschwemmt worden mit günstigen Nullweinen direkt aus dem Fass, dass der L. allgemein als banaler, süßer Essensbegleiter bekannt war, Massenplörre für die Massen, das RTL-Programm unter den Weinen.
Und was ist jetzt? Seit einigen Jahren schenken die Sommeliers in Naturweinbars plötzlich begeistert staubtrockene, vielschichtig aufgebaute Weine #Lambrusco aus. Und ganz nüchtern fragt man sich: Gibt es da vielleicht etwas zu entdecken in den Hügeln der Emilia, jenseits aller Plattitüden?
Drei Tage habe ich die Region mit meiner Kamera und großem Durst bereist, auf der Suche nach dem Bild eines interessanteren Lambruscos als die Assoziation mit gesüßter Rotweinschorle. Gefunden habe mehr als ein Bild, sondern eine Vielfalt trinkiger, komplexer Weine, die von innovativ arbeitenden Winzern erzeugt werden.
Die geographische Weinanbauzone Lambrusco zwischen Parma und Bologna hat ihre Bezeichnung von der gleichnamigen Rebsortenfamilie. Sie war schon unter den Römern als besonders robust und ertragreich bekannt und umfasst heute noch circa 15 verschiedene Typen, die aufgrund der langen Entwicklungszeit unterschiedliche ampelgrafische und sensorische Attribute aufweisen.
Der Wein kann seine bäuerliche Herkunft kaum leugnen. Und will das auch nicht.
Allein auf Grund der vielen verschiedenen Sorten findet man auf der Karte der Osterien rund um Modena nicht einfach einen Lambrusco, sondern 15, 20, 30 davon.
Die drei am meisten angebauten Lambruscosorten sind zugleich die wichtigsten DOC-Appellationen: Lambrusco di Sorbara, Lambrusco Salamino und Lambrusco Grasparossa.
Grasparossa, der „Hügel“ Lambrusco, trifft mit seinem tiefroten, fast violetten Aussehen am ehesten das Bild des typischen Lambrusco. Er wird vor allem südlich von Modena in den Hügeln um Castelvetro di Grasparossa angebaut. Ins Glas gegossen erinnert sein rubinroter Schaum an das gefärbte Kräuseln von Wellen, wenn sie auf Land treffen. Ein Wein für den Strand also? Das vielleicht auch.
Dass Lambrusco auch ganz anders kann, elegant und klirrend mit seinem Klischee aufräumt, lernt man beim Sorbara.
Die Rebsorte wird vor allem in der Ebene nördlich von Modena angebaut und erzeugt den hellsten unter den Lambrusco-Weinen. Sein Farbspiel ist das eines Rosés, von rotgold bis zu Tönungen eines reifen Pfirsiches.
Sorbara wächst in ausgeprägter Luftfeuchtigkeit auf den Ablagerungen der zwei Flüße Vecchia und Panaro. Er entwickelt eine markante, rotfruchtige Säure, kann elegant und ätherisch im Glas sein.
Da die Sorbarapflanze nur männliche Geschlechtsorgane besitzt, braucht sie einen Bestäubungspartner und wird deswegen zusammen mit einem Anteil Salamino gepflanzt. (Das kulinarische geprägte Denken der Region kommt hier unverblümt zum Vorschein - Salamino heißt übersetzt kleine Salami). Wenn man also Lambrusco di Sorbara trinkt, handelt es sich meist um eine Cuvee von Sorbara und Salamino.
Einen beeindruckenden reinsortigen Sorbara erzeugt Gian-Luca Bergianti auf seinem biodynamischen Weingut in der Nähe von Carpi. Der junge Winzer erinnert mit seinem Agronomie-Studium und dem Weinkeller, den er, inspiriert von einem „Kühlschrank“ aus dem Jahr 600 n.Chr. in einen kühlenden Erdhügel gebaut hat, eher an das Bild eines innovativ denkenden Loire-Winzers oder eines Naturwein-Winzers aus Österreich.
Auf den 16 Hektar wachsen neben Wein und Getreide, begleitet vom Summen der Bienen, auch Artischocken und Kräuter im angelegten Biodiversitäts-Garten. Gian-Luca strahlt vor Optimismus, wenn er von seinem jungen Familienbetrieb spricht. Er weiß um die Qualität seiner komplexen, feingewebten Weine, die ich bei selbst gemachter Salami probiere. Es wirkt fast so, als hätte sich der rustikale Lambrusco bei Bergianti gemausert, sich endlich mal rasiert und einen frisch gebügelten Anzug angezogen.
Doch der Wein kann seine bäuerliche Herkunft nicht leugnen. Und will das auch nicht. Er war nie ein konzipierter Wein, sondern der für den Eigenverbrauch erzeugte Alltagswein der Bauernfamilien in der Emilia. Da die Rebsorte spät in den Herbst hineingelesen wurde, wurde die Gärung im Keller meist durch die sinkenden Temperaturen unterbrochen.
Der Most fermentierte, sich selbst überlassen, im darauffolgenden Frühling weiter und erzeugte CO2 in den Flaschen. Lambrusco ist erst ab den 60er Jahren dieses Jahrhunderts ein im großen Stil kommerziell vermarktetes Produkt. Als Osteria Wein wurde er in den Gasthäusern Modenas seit dem 19. Jahrhundert in Karaffen ausgeschenkt wurde, bevor die Industrie und Winzergenossenschaften ihn auf den Weltmarkt schleuderten.
Stefano Pescarmona kommt aus einer Ärztefamilie, hat sich aber gegen die Tradition entschieden und statt Medizin Landwirtschaft in Florenz studiert. Heute ist er ein renommierter Agronom und Biodynamie-Experte, hat als Professor für Agroecology und als Bio–Banyuls-Winzer gearbeitet. Er erzählt mir die Geschichte des Lambrusco.
2007 kaufte er 4 Hektar Land im Enzo Tal, dem Geburtsort des Parmigiano Reggiano, um einen Wein zu machen, den er selbst gerne trinkt. Frisch und zupackend, einfach im besten Sinne, durchzogen von Magie. Und so nennt er sein Weingut auch Podere Magia. Die drei Weine, die er herstellt, lässt er traditionell in der Flasche vergären.
Lambrusco als Wein, dessen Zweitgärung in der Flasche stattfindet, galt lange Zeit als Reminiszenz der Vergangenheit. Denn lange Zeit wurde der meiste Lambrusco von Winzergenossenschaften in Drucktanks produziert. Zum Glück gibt es inzwischen wieder mehr und mehr Lambrusco, die wie von Stefano nach der ersten Gärung des Weines im Fass oder Tank mit Mostkonzentrat aufgefüllt in Flaschen gefüllt werden (Rifermentato in bottiglia).
Andere Winzer gehen noch einen Schritt weiter und produzieren Lambrusco Metodo Classico. Zusammen mit Lambrusco im Pet-Nat Style, bei dem der gärende Most von Anfang an in der Flasche vergärt, erzeugt es neben den verschiedenen Rebsorten eine aromatische Vielfalt.
Unabhängig aus welchem Herstellungsverfahren die Sprudel im Lambrusco kommen, sie erweisen sich zu dem fettbasierten Essen als nützlich. Doch selbst jenseits von Tortellini al Panna, Lardo und Salumi gibt es kaum ein Essen, das sich nicht mit irgend einem Lambrusco wohlfühlt. Ganz wichtig ist: Lambrusco ist kein Wein, über den man am Kamin meditiert. Er wird am Tisch getrunken, und ist in diesem Sinne weniger ein Wein als eine Beziehung.
Gerade weil wir seine bäuerliche Vergangenheit schmecken können, wirkt Lambrusco heute manchmal wie aus der Zeit gefallen. Die Generation junger Winzer, die sich dieser Vergangenheit gerade wertschätzend annimmt schafft es, das Wesen des Lambrusco wieder aufrichtig, ungekünstelt und offen ins Glas zu bringen. Und weil Lambrusco ein Wein des Landes und der Bauern ist, funktioniert wahrer Lambrusco nur in handwerklichem Sinne. Sein von Grund auf landwirtschaftliches Wesen kann nicht in industriellem Stil verpackt, geschweige denn vermarktet werden. Das macht den rustikalen Kerl sympathisch.
Lambrusco erzählt von Einfachheit im besten Sinne. Ein Wein der Gastfreundschaft, der convivalità. Er feiert das Essen und den, der ihn trinkt. Gleich einem sprudelnden Fluss trägt er das Essen, die Herzlichkeit und Liebe zu dem Land, von dem er stammt, in den Magen. Lambrusco ist so viel mehr als ein Wein. Er ist ein großzügiger Charakter, ein Brunnen der Herzlichkeit.
Anika Masters persönliche Top 5 Lambruscos:
1. PerFranco von Bergianti
2. Giano von Fondo Bozzole
3. Lambrusco dell‘Emilia von Podere Magia
4. Cinquecampi Rosso von Cinque Campi
5. Radice von Paltrinieri