Der Alpmensch arbeitet hart und ist trotzdem mit sich selbst zufrieden. Denn die Ruhe am Berg führt zu innerer Gelassenheit. So denkt der Talmensch, während er auf der Bank vor der Hütte des Alpmenschen sitzt. Auf welcher der Alpmensch nur selten zu sitzen kommt. Denn ihm ist statt Ruhe Arbeit zuteil. Dem Talmenschen wird mit Blick auf das Engadiner Gebirge und beim hintergründigen Geläut der Glocken der Kühe bewusst: Er selbst ist viel zu verhaftet im Denken an seinen Laptop, Steuerberater und anderes. Warum mache ich das eigentlich?, fragt er sich dann, nimmt einen Schluck kühle Milch.
Die kleinen Säue grunzen in der Sonne. Der Talmensch erinnert sich, dass es auf Alpen Schweine gibt, um die übrig gebliebene Molke vom Käsen an sie zu verfüttern. Er grunzt stolz, weil er sich so gut auskennt über die Arbeit am Berg.
Weicher Käse, harte Arbeit
Der Alpmensch fährt eine Schubkarre beladen mit Holzscheiteln an ihm vorbei. Ohne Holz geht hier oben nichts. Der große Ofen in der Küche muss durchgehend befeuert werden. Er wärmt die Zehen, bäckt Brot und macht Tee. Zoomt man näher ran, erkennt man: Der Alpmensch ist eigentlich eine Sie. Gemeinsam mit zwei Kolleginnen betreibt Mex die Alp Cavlocc. Um zu der Hütte knapp unterhalb der Baumgrenze zu gelangen, muss man mit dem Buss von St. Moritz ins Bergdorf Maloja fahren und noch zwei Stunden in die Höhe steigen.
Hier ist das Tal weit weg. Das Leben der drei Frauen dreht sich in der Zeit von Ende Juni bis Anfang Oktober um die 120 Ziegen der umliegenden Bauernhöfe. Die Alparbeiten lassen ihnen keinen Sonntag, keine Gedanken an Rückenschmerzen. Sie entschuldigen kein schlechtes Wetter. In ihrem ersten Jahr, erinnert sich Mex, hat es bis auf zwei Ausnahmen jeden Tag geregnet. Doch nicht das Wetter, die Tiere sind der Taktgeber. Sie bestimmen den täglichen Rhythmus von melken, käsen und Holz hacken.
„Probier mal den Käse. Der schmeckt wirklich geräuchert.“ Die Talfrau schiebt dem Talmann ein Stück des weißen Käses mit der gold-braunen Rinde in den Mund. Eine Art geräucherter Ziegenricotta, hatte man beiden vorher erklärt. Der Käse ist weich und cremig. Er schmeckt süß und auch irgendwie nach Waldkräutern und Boden.
Die Gegend des südlichen Engadins ist Heimat des Mascarplin, eines gereiften Zigers aus Ziegenmilch. Ziger bezeichnet einen traditionellen Käse der Schweiz, bei dem die Milch oder die Molke wie beim Ricotta auf über 90 Grad erhitzt und mit Säure zum Gerinnen gebracht wird. Die Hitze lässt das Eiweiß Albumin ausflocken, im Gegensatz zu Labkäsen, die bei niedrigeren Temperaturen hergestellt werden und vor allem Casein enthalten.
Mascarplin ist inzwischen ein offizielles Schweizer Slow-Food-Presidio-Produkt, also eine schützenswerte, weil vom Verschwinden bedrohte Spezialität. Weil die Alp Cavlocc einer der letzten Orte war, auf denen Mascarplin produziert wurde, hat Mex damit die Aufgabe der Produktion übernommen. Sie käst frischen Mascarplin, lässt ihn über mindestens 12 Monate reifen, macht herrlich rahmigen und fein säuerlichen Frischkäse und einen tiefgründig-würzigen Ziegenalpkäse. Und weil sie findet, dass Mascarplin am besten schmeckt, wenn er geräuchert wird, haben sie den Holzverschlag in die Bergwand oberhalb der Käserei gebaut. Dort werden alle paar Wochen die frischen Käselaibe mit selbst gesammelten Wacholderzweigen geräuchert. Jede halbe Stunde frischt eine der drei Frauen die Glut auf.
Geschützt, weil es so gut und selten ist
Ich sollte einfach mal alles loslassen, sagt da etwas im Talmenschen. Ein Sabbatical als Senner. Das machen doch jetzt immer mehr Leute, eine Auszeit auf der Alp. Mex betreibt die Alp seit sechs Sommern. Die restliche Zeit arbeitet sie als Geophysikerin in der Lawinenforschung. Sie stammt aus einer Kleinstadt in Oberbayern. Vor zwanzig Jahren ist sie in die Schweiz immigriert. Mex erzählt: „Morgens um 4.30 Uhr geht es los. Eine Ziege nach der anderen. Bestimmt wunderschön.
Wenn es regnet, melken wir im Stall. Das riecht streng, Ziegen riechen doch so. Vor allem die Böcke. Das bekommt man ganz schwer aus den Klamotten.“ Das Melken der Ziegen passiert in vollkommener Ruhe. Der Nebel liegt noch auf dem Gras vor dem See, nur selten unterbricht ein Rufen die Stille. Die Ziegen kennen das Melken. Ohne einen Laut lassen sie Mex mit ihren Händen das Euter bearbeiten. Wenn sie fertig ist, gibt es einen Keks.
Mex kennt inzwischen jede der 120 Ziegen beim Namen. Marrakesh, Linda, Albula. Sie weiß, welche schon gemolken wurde, und wer immer besonders rum zickt. Wer wann welche Krankheiten hatte, und wer mit welcher anderen Ziege befreundet ist. Die Tiere und die Frauen bilden eine Gemeinschaft, die sich von einem Tag zum anderen arbeitet. Der Berg, das Wetter, die Ziegen, sie scheinen wie ein großes Orchester zu atmen, in dem Mex und ihre beiden Kolleginnen für die Dauer des Sommers mitschwingen.
Der Talmensch erinnert sich daran, als er mal versucht hat, ein Schaf in der Toskana zu melken. Da war er mit seiner Frau in einem Agriturismo und der Schäfer hat immer Pink Floyd gehört beim Melken. Das helfe, im Rhythmus zu bleiben. Mit Mühe hat er einen Strahl hinbekommen. Er erinnert sich, wie unbeholfen seine Hand an dem Euter wirkte und wie warmes war, wie weich die Haare.
Die Sonne steht schon fast senkrecht am Himmel. Die Talfrau reißt ihn aus seinen Gedanken und zückt die Sonnencreme. „Von dem Käse nehmen wir noch was mit.“
Als die beiden gehen, sind die Ziegen mit Mex’ Kollegin und der Hirtenhündin schon weiter nach oben gezogen. Bis zum Nachmittag werden sie dort auf der Höhe weiden. Gegenvier, wenn sie wieder zurückgekommen sind, werden die drei Frauen sie noch mal melken. Etwa zwei Stunden dauert es, bis alle Ziegen durch sind. Doch das ist noch lange hin. Mex schaut auf die Uhr. Der Mascarplin im Rauch braucht wieder neue Glut, dann muss sie weiter Holz hacken. Für den Ofen. Gleich gibt es Mittagessen.