Mit der Ellbogentechnik kommt man nicht nur im mittleren Management am besten voran. Der Ellbogen ist auch von Nutzen, möchte man mit der Nase vorankommen. Wenn es geruchsmäßig gerade etwas heavy war, also nach dem Besuch eines Ziegenstalls oder dem Riechen am Époisses gegen Ende seiner Reifezeit: Einfach zwischendurch in der Beuge riechen, dort ist der Körpergeruch neutral. Es ist wie wenn Weinverkoster zwischen den Proben einen Schluck Wasser nehmen. Das erzählt Christine Brugger. Sie ist Sensorikwissenschafterin.
Ort und Zeit: das niederösterreichische Mostviertel an einem Vormittag im April. Christine Brugger hat das beste Zeitfenster. Zwischen neun und elf Uhr am Morgen verkostet man nämlich besonders gut. Brugger versucht ihr Publikum, Journalisten, Köche, Produzenten, Landwirte, einzuschätzen. Sie fragt: „Wer kennt den fünften Geschmack? Was ist der Unterschied zwischen Bitterkeit und Adstringenz? Wie unterscheiden sich Geschmack und Aroma?“
Wir stellen kurz vor: Als Sensorikerin ist Christine Brugger seit 20 Jahren in der Konsumentenforschung, als Dozentin an der Hochschule und als Leiterin der Sensorik der staatlichen Forschungseinrichtung Agroscope mit Schwerpunkt auf pflanzliche Produkte tätig. Sie hat Ernährungswissenschaften studiert. Doch den Menschen sagen, was sie alles nicht essen sollen, dürfen, können, das mag sie nicht. Sie sagt: „Ich hatte immer den positiven sensorischen Ansatz im Kopf: Esst dieses und jenes, weil es sensorisch spannend ist, Genuss bedeutet und auch noch gesund ist.“
Beim weltgrößten Duftkonzern Givaudan fand Brugger dann genau das, was sie immer schon interessiert hat: die Möglichkeit, der aromatischen Vielfalt von Düften auf den Grund zu gehen. Für Givaudan erarbeitete sie ein Sensorik-Alphabet, das helfen soll, die Facetten der unterschiedlichsten Düfte zu beschreiben. Riechen können wir Menschen eine Million unterschiedliche Aromen. Alleine bei Äpfeln gebe es 300 Aromastoffe.
Aber wir haben beträchtliche Sprachschwierigkeiten beim Erkennen und Benennen der Düfte und Geschmäcker. Insofern ist ein Aromaseminar ein Sprachkurs, bei dem man lernt, in Aromastrukturen zu denken und zu sprechen. „Es ist wie Vokabeln lernen“, sagt Brugger. „Gerade beim Verkosten liegen viele Dinge buchstäblich auf der Zunge, man kennt sie, aber kann sie im Moment nicht ausdrücken.“ Regelmäßiges Training bleibt keinem erspart. Um die eigene sensorische Sprachkompetenz aufzubauen, empfiehlt sie die „Vokabeln“ mit dazugehörigen Referenzen zu trainieren. Einmal pro Woche. Rosenwasser oder Koriandersamen für „blumig“, Pfefferminze für „grün“. Schritt für Schritt weiter in die Tiefe gehen.
Spurensuche
Was kann der Boden hier leisten? Was bringt er hervor? Wie bekomme ich den Geschmack der Region authentisch auf den Teller? Die Gruppe aus Bauern, Mitschreibern und Köchen sucht im Feld nach einer kulinarischen Identität. Der aus der Weinwelt bekannte Modebegriff Terroir braucht nicht lange, bevor er zum ersten Mal fällt. Aber was hat er eigentlich hier verloren? Wein gibt es im Mostviertel – der Name lässt es nicht vermuten – sehr wohl: Das ganze Weinbaugebiet Traisental liegt hier. Kann man aber kann bei anderen Produkten als Wein auch vom Terroir sprechen?
Ziel: die richtige Pflanze zum richtigen Boden.
Der Verdacht hat sich schon längere Zeit aufgedrängt. Klima, Boden, Landschaft und eine beträchtliche Anzahl von Faktoren treffen zusammen. Nacht- und Tages-Temperaturen, Niederschlagsverteilung, Sonnenscheinstunden, Hangneigung, Bodendurchlässigkeit reagieren miteinander, und bilden das, was der französische Winzer Terroir nennt. Vor allem die Mikroorganismen sind es ja, die einem Boden seinen Charakter geben.
„Na ja, wenn der Terroirbegriff ernst genommen werden würde, wäre ich sehr glücklich“, sagt Wilfried Hartl. Er sieht sich als Verkuppler zwischen Boden und passender Pflanze. Der gebürtige Salzburger wohnt im Weinviertel und arbeitet in Wien, nämlich bei der Bio Forschung Austria. Hartl hat ein erklärtes Ziel: Pflanzenbau auf der Basis des Bodens und seinen jeweiligen Eigenschaften. Man muss die richtige Pflanze mit dem richtigen Boden matchen. Für ihn geht es bei den Feldversuchen um Wertschöpfungssteigerung und Produktentwicklung aus den naturräumlichen Gegebenheiten und Besonderheiten.
„Es ist eine Wechselwirkung zwischen Boden, Pflanze und Klima. Dazu kommen die Eigenschaften des Kulturführers, also der Winzerin oder des Obstbauern. Sie entscheiden über Bewirtschaftung, Stickstoffniveau, Fruchtbarkeit, Düngung“, ergänzt Hartl. Insofern gibt es übrigens auch keinen „Naturwein“ im eigentlichen Wortsinn. Denn auch ein „Naturwinzer“ entscheidet all diese Dinge. „Weinbau ist höchste Form von Agrikultur. Stehen wir dazu, dass Agrikultur etwas Tolles ist, aber schauen wir, dass sie bestmöglich angewandt wird“, meint der Bodenforscher.
Nehmen wir die Rote Rübe her – ein auch geschmacklich von Erde geprägtes Gemüse: Merkt man da den Unterschied, auf welchem Boden sie gewachsen ist? Könnte man sie terroir-bezogen ausbauen? „Ja, vielleicht sogar einfacher als Wein“, sagt Hartl, „Denn der Wein ist irrsinnig widerstandsfähig. Eine Rote Rübe hingegen auf einem sandigen Boden wird bitter und scharf. Die braucht gemüsefähigen Boden. Lehmboden ist ideal“, erklärt Hartl. Auch der Mostbirnbaum kann die Wasserspeicher in diesen tiefgründigen Böden gut aufschließen. Deshalb prägt er nicht nur das Landschafts-, sondern auch das Geschmacksbild der Region.
Unsere Übungsgeräte beim Mostviertler Feldversuch sind Apfel, Birne und Dirndl, auch Kornelkirsche genannt. Die Früchte geben dem Mostviertel seinen Signature-Geschmack. Es ist von Niederösterreichs vier Teilen der Puzzlestein unten links, 5.500 Quadratmeter groß und von sehr unterschiedlicher Topographie. Fährt man Richtung Oberösterreich, durch den Bezirk Amstetten, sieht man von der Landstraße aus zwischen den prächtigen Bauernhöfen Streuobstbäume, als hätte sie jemand vor Jahrzehnten wahllos vom Himmel gestreut.
„Wichtig ist, dass man nicht nur riecht, sondern auch schmeckt. Die Säure des Mostviertels zum Beispiel, sie ist nur auf der Zunge spürbar.“
Nirgendwo gab es in der k. u. k. Doppelmonarchie so viele Obstbäume wie hier und nach wie vor existieren ein paar Hundert Mostbirnensorten. Mostbirne? Sie schmeckt auf den ersten Bissen herb, hart, holzig. Man ist nicht angetan vom Gedanken, sie aufzuessen. Verarbeitet wird die Birne nicht nur zu trocken-fruchtigem, leicht alkoholischem Most, sondern auch zu Schnaps, Cider und Essig. Und die schmecken dann.
„Der Geschmack des Mostviertels ist immer frisch, fruchtig, leicht rustikal durch die Gerbstoffe, lebendig animierend“, findet zum Beispiel eine Teilnehmerin.
Nur Riechen allein reicht also nicht.
Wir kosten hier nach Anleitung von Christine Brugger einen Birnenschaumwein und halten uns für die Unterscheidung von Geschmack und Geruch dabei die Nase zu. Mit zugehaltener Nase ist lediglich die Säure, Süsse, Adstringenz, Bitterkeit spürbar. Aber am Gaumen geht’s vielfältiger zu als durch die Nase.
Kaum öffnet man die Nasenlöcher, strömen die Aromen über den Rachen in die Nase. Kräuter, Zitrone, unreife Birne. Die Sensorikerin sagt: „Die Aromaentwicklung über den Gaumen ist fast wichtiger. Die sogenannte zweite Nase. Denn über die Erwärmung im Mund werden zusätzlich Aromen freigesetzt. So schmilzt zum Beispiel durch das Kauen eines Schokoladenstücks das Fett – gibt die Aromen frei – und wir erfahren die Schokolade in ihrer aromatischen Breite erst so richtig. Nur Riechen allein reicht also nicht.“
Textur ist der Eingang des Geschmacks und das Wichtigste.
Der trigeminale Effekt ist auch der Grund, weshalb viele Menschen scharfes Essen lieben, obwohl es sogar wehtut. „Eigentlich soll er uns vor Gefahren schützen. Der Körper will den Reiz möglichst schnell heraustransportieren“, erklärt sie. Das Warnsystem läuft: Schmerz, Gefahr. Das löst Botenstoffe aus, danach aber die Endorphine, um den Schmerz zu übertönen. Wir sind süchtig nach Endorphinen. „Ingwer und Schnaps – das ergibt eine schöne trigeminale Explosion!“
„Auch Säure ist ein Aromaverstärker“, ergänzt Brugger. Jedenfalls sind Aromen bei Zimmertemperatur gut erkennbar. „Wenn etwas zu kalt serviert wird, werden bestimmte Töne kaschiert“, sagt sie. „Sollst leben!“, schallt es jetzt aus einer Ecke des Raumes. Der Trinkspruch ist seit Jahrhunderten im Einsatz. „Weil wir überzeugt sind, dass Most gesund ist“, sagt Mostbaron Toni Distelberger. Alkohol löst über die Schleimhäute aus, was man den trigeminalen Effekt nennt. Je gröber die Perlage unserer Birnensektproben, desto stärker wirkt er. Denn Alkohol und Kohlensäure verstärken sich. Brugger erzählt von der kühlenden Wirkung von Eukalyptus, Szechuanpfeffer, Ingwer und Menthol, vom beißenden, prickelnden Gefühl, das von der Aromawahrnehmung ablenkt.
Brugger ist dem Mostbirnbaum in allen Facetten auf den aromatischen Grund gegangen. Blüten, Blätter, Knospen, Rinde, Äste, Holz, Wurzel. Die Frage: Was können wir alles von dieser Pflanze verwenden? Und wie riecht und schmeckt das dann?
Für Inspiration und den Gedanken des Ganzheitlichen sorgte am Vortag Andree Köthe. In seinem Nürnberger „Essigbrätlein“ verarbeitet er einfaches und oft vergessenes Gemüse. „Wer hat schon mit den Blättern gearbeitet?“, wird in die Runde gefragt. Fermentiert und mariniert schmeckten sie ledrig. Im Frühling seien sie weicher und salatähnlicher. Was können wir mit der vitaminreichen Schale der Birne machen? Sie unterscheidet sich wesentlich vom Apfel: Die Steinzellen geben Gerbstoff und Textur. Rau und grob spielen sie mit den hakenförmigen Papillen auf der Zungenmitte.
„Textur ist der Eingang des Geschmacks und für mich das Wichtigste“, sagt Köthe. „Es ergibt sich so eine Vielfalt, wenn man alle Teile unterschiedlich verarbeitet“, meint er, während er die Teile eines Rotkrauts aufblättert. Die äußeren Blätter, ledrig dünn, wenig knackig, ergeben eine Essenz oder werden stark gegrillt. Innere Stücke bilden mit knackigem Biss Salat mit eingelegten Wassermelonenschalen und kandiertem Meerrettich. „Wir haben im Essigbrätlein fast keinen Biomüll mehr“, sagt er. Minimalismus und Einfachheit muss nicht auf Struktur und komplexen Geschmack verzichten. Er sagt: „Viel Gemüse zerschlage ich nur mit dem Nudelholz. Das macht die Struktur so spannend.“
Struktur, Mundgefühl, Viskosität, eine leichte Säure, die sich am Gaumen aufbaut, mache für sie das Mostviertel deutlich, so Brugger. Das trifft auch auf eine zweite typische Frucht in der Gegend zu: die Dirndl. Mindestens seit der Antike ist die Dirndl vulgo Kornelkirsche bekannt für ihre antioxidantische und -bakterielle Heilwirkung. Man sagt auch Superfood dazu. Das Hartriegelgewächs ist widerstandsfähig und liebt Kalkböden.
Im Mostviertel gibt es Dirndl sogar in Wildform. Christine Brugger bekam von den Mostviertlern Dirndlkerne geschickt. Sie sagt: „Die haben leicht süßlich gerochen und ich habe nachgelesen, dass sie früher in Wien als Aromageber dem Kaffee zugegeben wurden.“ Angeröstet, hat sich der Bittermandelton verflüchtigt und das Vanillin ist zur Geltung gekommen. Über Nacht legte Brugger die Kerne in warmen Dirndlsirup ein. Und siehe da: Dieser wird bei der Verkostung als deutlich süßer wahrgenommen. Das in hoher Menge ungesunde Amygdalin wird durch Erhitzen abgebaut und lässt dem Vanilleton Raum.
„Die viele Säure haut einen sensorisch aus der Kurve“, sagt jemand aus unserer Runde. Sie betont den Charakter, weil ihre Viskosität die Wahrnehmung verzögert. Adstringenz hingegen stört sie eher und trocknet den Mundraum aus. Es ist immer ein Gefühl des Zusammenziehens. Geschmacksempfindung hängt aber auch von der Temperatur ab: Säure wird immer gleich wahrgenommen, Süße wirkt stärker bei Wärme, Bitterkeit hingegen bei Kälte. Oft muss man nicht die Speise ändern, wenn einem etwas zu bitter vorkommt, kann man es auch einfach wärmer servieren.
Apropos Bitter: Bei dieser Geschmacksrichtung scheiden sich die Geister. Hier gibt es die größten Schwankungen in der Wahrnehmung. „Sie mögen den Geschmack von Rosenkohl, auch das weiße Fleisch der Grapefruit, Kaffee ohne Zucker und Milch? – Dann zählen Sie zu den wenig Bittersensiblen.“ Kinder mögen oftmals keinen Spinat und keinen Brokkoli, weil sie viel feinfühliger sind und das „Bittere“ unterbewusst als Gefahr gewertet wird.
„Es muss ja beim zweiten Löffel anders schmecken, dass es noch Spaß macht.“ Andre Köthe
In der Showküche wird es unruhig. Alle beschnuppern ihre Ellbeugen. Der intensive Dirndlduft ist verflogen! Wie alle Aromen hat auch er eine zeitliche Dimension: vom ersten Eindruck zum Nachhall, aber nach maximal drei Minuten gewöhnen wir uns an einen Geruch, und nehmen ihn nicht mehr wahr. Nach wenigen Minuten im Kuhstall fällt uns das animalische Aroma nicht mehr auf. Sensoriker sprechen von Adaptation, also der Anpassung des Empfindens auf einen gleichmäßig intensiven Reiz.
In einem vielschichtigen Produkt kommt die Aromadynamik zum Tragen. Beschreibung und Empfindung kann in Sekunde 20 anders sein als in Sekunde 60. Andree Köthe fühlt sich dadurch angespornt. Sein Anspruch: „Es muss ja beim zweiten Löffel anders schmecken, dass es noch Spaß macht.“ Eine sensorisch spezifische Sättigung möchte man vermeiden. Denn so ein Dauerreiz lässt die Wahrnehmung herunterfahren. Im Idealfall entwickelt man komplexe Berührungspunkte. „Es muss Wellen geben, die immer andere Eindrücke auslösen“, sind sich Brugger und Köthe einig. Und die Sensorikerin fügt hinzu: „Wichtig ist, dass man nicht nur riecht, sondern auch schmeckt. Die Säure des Mostviertels zum Beispiel, sie ist nur auf der Zunge spürbar.“