In New York und Los Angeles wird Helmut Dolde in der Weinszene regelmäßig gefeiert. Da gilt der Winzer aus Württemberg, der im Dezember 72 Jahre alt wird, als „One of Germany’s hippest growers“. Sogar die „New York Times“ beschäftigte sich schon mit Dolde, dessen Weine und Pét-Nats in den angesagten Weinbars der amerikanischen Metropolen ausgeschenkt werden. Hierzulande wird der spätberufene Winzer noch immer als Geheimtipp gehandelt.Ohnehin kann der pensionierte Gymnasiallehrer dem ganzen Hype nicht viel abgewinnen. „Darüber kann ich nur schmunzeln“, sagt der geerdete Schwabe, der sein Leben lang in einer Gegend am rauhen Albtrauf verbrachte, in der die Einheimischen einsilbig ihr Tagwerk verrichten und sich dabei nicht allzu wichtig nehmen.

„Darüber kann ich nur schmunzeln!“

Dolde gibt nichts auf Moden und Trends, er trägt schon seit Ewigkeiten einen Schnauzer, ohne den man ihn sich gar nicht vorstellen kann. Schwaben wird nachgesagt, dass sie sich stärker an Traditionen und Bewährtes klammern als andere. Aber Dolde unterscheidet sich von seinen Landsleuten durch seine ausgeprägte Neugier und Experimentierfreude: Er war der erste selbständige Winzer im Neuffener Tal, in dem die Bauern ihre Trauben gewöhnlich an die örtliche Genossenschaft abliefern. Er war auch der Erste, der sich eingehend mit den Lagen in dieser unverbrauchten Landschaft beschäftigte und auf geologische Gemeinsamkeiten zwischen dem Albtrauf und Burgund hinwies: „Wenn man Weine mit Bodenhaftung erzeugen will, muss man wissen, wo sie wachsen.“ 

Helmut Doldes Spielwiese: Sein Weinberg in Linsenhofen. Brauner Jura à la Côte de Beaune. Hier wächst überwiegend Silvaner und Spätburgunder. (© C. Dolde)

Rund 40 Kilometer südlich von Stuttgart, zwischen Wäldern, längst erloschenen Vulkanen und Streuobstwiesen hat der Winzer seine Reben um die Dörfer Linsenhofen, Beuren und Neuffen stehen. Helmut Dolde geht die Neuffener Schlosssteige hoch, die sich auf beinahe 530 Meter hochzieht – es ist einer der höchstgelegenen Weinberge überhaupt im Land. Über ihm baut sich die mittelalterliche Burganlage Hohenneuffen auf, dahinter die „Blaue Mauer“, wie der Dichter Eduard Mörike die Schwäbische Alb nannte. Die Reben stehen auf Verwitterungsböden aus braunem und weißen Jurakalk mit hohen Eisenanteilen. Solche Böden sind in Deutschland eine Rarität, im Burgund wachsen darauf berühmte Weine.

"Solche Böden sind in Deutschland eine Rarität, im Burgund wachsen darauf berühmte Weine."

Das Jurameer, das vor 200 Millionen Jahren Europa überzog, hinterließ geologische Profile, die sich im Neuffener Tal und im Burgund verblüffend ähneln, wie Dolde erklärt. „Es ist beinahe wie ein Spiegelbild.“ Immer wieder bleibt er stehen und zieht Vergleiche: „Da unter der Baumgrenze wäre Romanée-Conti, hier wären wir in der Côte Chalonnaise in Mercurey, Montrachet könnte dort drüben sein.“

„Da unter der Baumgrenze wäre Romanée-Conti, Montrachet könnte dort drüben sein.“

Als er diese Gemeinsamkeiten zum ersten Mal betonte, wurde er für verrückt erklärt: Wie konnte er so vermessen sein und die unbekannten Weinberge am Albtrauf mit der berühmten Bourgogne vergleichen? Heute bestätigen auch Geologen, dass Dolde richtig liegt mit seiner Bodenkunde.

Der bekennende Pinot-Noir-Fan, der sich „schon immer für Geologie interessiert hat“, entdeckte die Analogien bei regelmäßigen Fahrten ins Burgund. Dort bemerkte er Pflanzen, „die gerne im Kalk stehen“, wie Orchideen und Enzian-Arten. Er fand in der Bourgogne auch „Leit-Fossilien“ wie Ammoniten und Korallen, „die kenne ich doch von zuhause“, war sein erster Gedanke. „Beide Anbaugebiete gleichen sich, nur beiden Weinpreisen klaffen sie enorm auseinander“, sagt er. Aber einer der Gründe, warum man oft von Lagen wie Romanée-Conti und Montrachet hört, aber kaum jemand Linsenhofen kennt, ist das Klima. „Wir liegen nördlicher und deutlich höher“,sagt der Winzer. „Wir sind die kühlere und feuchtere Variante von Burgund.“

 

Helmut Dolde keltert Weine von rund zwei Hektar Reben, Silvaner, Spätburgunder und Riesling zählen zu den wichtigsten Sorten. Der Weinbau kletterte unter der Burg Hohenneuffen einmal hoch bis auf knapp 600 Meter, ganz oben in dem Naturschutzgebiet stehen jetzt statt Reben Orchideen wie die Boxriemenzunge, die Ragwurz oder das Kohlröschen. Schmetterlinge wie der seltene Schwalbenschwanz flattern durch die Luft, während weiter oben ein Mäusebussard stoisch seine Runden dreht.

"Bergweine" nennt er seine Gewächse.

 Für eine Weile vergisst der Winzer den Wein und beugt sich interessiert über die filigranen Blütenblätter. „Inzwischen wäre es richtig spannend, hier oben Reben anzubauen“, sagt Dolde – es wäre der höchste Weinberg überhaupt in Deutschland. Gerade am Morgen ist die Luft am Albtrauf eine kleine Sensation, man bekommt nicht genug davon, sie in tiefenZügen zu inhalieren. Als „Tälesweine“ – Weine aus dem Tal – bezeichnen die Einheimischen gerne ihre Erzeugnisse, für Dolde ist es eine völlig verkehrte Bezeichnung. „Bergweine“ nennt er seine Gewächse, die einen ganz eigenen Typus darstellen: Man riecht und schmeckt die klirrende Frische und Purheit der Bergluft, die würzige Mineralität der Böden. Wenn das inzwischen im Weinbau häufig bemühte Label „Cool Climate“ zutrifft, dann hier.

Lange Zeit war es am Fuß der Albzu kalt und unbeständig für anspruchsvollen Weinbau, über die Winzer und ihre Weine wurde gerne gelästert. Um diese Weine trinken zu können, bräuchte es eine Gruppe von vier Personen: Den bedauernswerten Konsumenten, zwei, die ihn festhalten. Und einer, der ihm das saure Getränk einflösst. Die Weine vom Albtrauf galten als nahezu  gesundheitsgefährdend, weil ihre aggressive Säure wie ein scharfes Messer im Magen wüten konnte. Helmut Dolde entdeckte Erntenotizen seiner Tante mit „erschreckend niedrigen Mostgewichten von nicht mal 50 Öchsle, aus den Trauben konnte man nur Essig machen“. Dolde begann die Möglichkeiten eines extremen Weinbaus präzise auszuloten. Das Neuffener Tal profitiert inzwischen von der Klimaerwärmung, der Austrieb der Reben setzt früher ein, die Reifephase der Trauben hat sich verlängert. „Durch die Höhenlage haben wir kühle Herbstnächte, die niedrigen Temperaturen halten trotz der Feuchtigkeit die Trauben gesund.“ Die kann Dolde im Herbst lange hängen lassen, seine Cool-Climate-Weine erhalten dadurch klare Aromen und eine präzise Säure, von denen Winzer anderswo nur träumen können. „Vor allem erreichen wir endlich auch eine optimale Traubenreife“, weiß Dolde.

"Helmut Dolde in action”, wie die New Yorker Sommeliers sagen würden. (© Super Glou)

 

Es ist seiner Dickköpfigkeit geschuldet, dass er sich überhaupt auf den riskanten Weinbau an der Albkante einließ. Dolde unterrichtete im Hauptberuf als Gymnasiallehrer Biologie und Chemie, sein Vaterbewirtschaftete nebenbei einen 213 Quadratmeter kleinen Weinberg mit Silvaner, der im Tal am meisten verbreiteten Rebsorte. Er gab den Ertrag an die Genossenschaft ab und kaufte stattdessen Trauben in der Pfalz, aus denen er seinen Haustrunk kelterte.

Doldes erster Wein roch nach Mist und Käse.

Das ärgerte Dolde, er wollte nicht einsehen, dass aus den eigenen Trauben kein trinkbarer Wein zu gewinnen war. Seine ersten Gehversuche als Winzer endeten freilich in einer „Katastrophe“, wie sich Dolde genau erinnert. Der erste Silvaner, den er 1982 in einem 50-Liter-Glasballon ausbaute, zeigte eine gewaltige Fehlnote, er roch penetrant nach Mist und Käse. Aber Doldes Ehrgeiz war angestachelt, der Autodidakt arbeitete sich hartnäckig in die Materie ein. Dolde ist bescheiden, aber auch selbstbewusst genug, um sich immer wieder neue Ziele zu setzen und eigene Wege zu gehen. Weinbau war als Hobby gedacht, nahm aber immer mehr Raum ein. Ohne die Unterstützung seiner Frau Hedwig wäre das Projekt „Bergweine“ allerdings längst gescheitert.

Hätte Doldes Frau Hedwig nicht so viel Geduld mit ihrem Mann und dem Wein, wäre das Projekt „Bergweine“ schon längst Geschichte.

 In Technologie konnte Helmut Dolde nie groß investieren, er brachte die wenigen Tanks und Fässer in der Garage und im Keller seines Hauses unter – eine andere Möglichkeit besaß er nicht. Von Anfang an setzt er nur ein „Minimum an Technik ein, ich muss meine Fantasie anstrengen und mit der Natur arbeiten“. Dolde macht alles von Hand, seine Weine vergären nicht – wie oft üblich – kontrolliert bei gesteuerter Temperatur. Er kühlt die Fässer mit nassen Decken und alten Bettlaken, bei offenem Fenster und mit einem Ventilator. Zunächst habe er sich beinahe dafür geschämt. Inzwischen weiß er: „Ich muss mehr nach meinen Weinen schauen als andere Winzer. Aber dadurch entsteht auch eine besondere Nähe zu ihnen.“ Gerade im Spätherbst, in der Gärphase, verbringt Dolde mehr Zeit bei seinem Wein als mit seiner Frau: „Da muss ich beinahe beim Wein schlafen.“

 Gerade im Spätherbst, in der Gärphase, verbringt Helmut Dolde mehr Zeit bei seinem Wein als mit seiner Frau: „Da muss ich beinahe beim Wein schlafen.“

Im Neuffener Tal war Weinbau über Generationen nur ein Standbein in den landwirtschaftlichen Betrieben, die auch noch Getreide und Kartoffel anbauten und Vieh hielten. Überall in Württemberg wurde der Weinbau von Genossenschaften kontrolliert, die Weine waren solide, aber selten mehr. Mit Lagenunterschieden und besonderen Terroirs beschäftigte sich kaum jemand. „Auf Wein war niemand spezialisiert“, sagt Dolde, der das ändern wollte. Als er begann, seine Ideen umzusetzen, stand er aber allein auf weiter Flur.

"Die anderen Winzer wetterten, dass die Pflanzensamen in ihre Weinberge eindringen."

Er führte in seinen Weinbergen schon 1985 die Begrünung ein, „gelobt wurde ich dafür nicht“, sagt er mit feiner Ironie, die anderen Winzer im engen Tal wetterten, dass „meine Pflanzensamen in ihre Weinberge eindringen“. Wer aus den geschlossenen Reihen ausscherte, musste etwas aushalten können. „Es war eine abgeschottete Insel hier“, sagt Dolde, der die ersten Spätburgunder im Neuffener Tal anpflanzte, die Reben besorgte er sich in der Ortenau und der Schweiz. Auch Weißburgunder führte er ein und Chardonnay, der sich allerdings noch schwertut und immer wieder unter den strengen Frösten leidet.

 

Vorsicht! Weinberg mit Mauer: Hinter den Silvaner-Reben thront die “Blaue Mauer” (so bezeichnete der Dichter Eduard Mörike einst die Schwäbische Alb). “An dieser Stelle des Weinbergs steckt ein Vulkanschlot im Jura”, verrät Helmut Dolde. (© Reiner Enkelmann)

Helmut Dolde geht nun durch die Rebzeilen in Linsenhofen, wo eine andere geologische Formation überwiegt: Hier wachsen die Rebstöcke auf Vulkantuff. „Dieser Boden hat mehr Mineralität und Vitalität als der Kalk“, erklärt Dolde, der seine Art des Weinbaus „freigeistig“ nennt, mit den Prinzipien des ökologischen Weinbaus, die er „rational nachvollziehen kann, aber verbunden mit meinem Wissen um die Physiologie und die Bedürfnisse der Reben“. Eine Zertifizierung als Ökowinzer strebt er nicht an, weil er nicht das machen könne, „was ein träger Verband mir vorschreibt“. Dolde will sich nicht einschränken lassen, das war schon immer so, lieber sucht er nach individuellen Möglichkeiten und Lösungen.

Dolde ist ein Tüftler. Schon als Lehrer gründete er einen „Erfinderclub“.

Dolde ist ein Entdecker und passionierter Tüftler, das war schon in der Schule so, wo er als Lehrer einen „Erfinderclub“ gründete und mit seinen Schülern eine wasserstrahlgetriebene Rakete mit automatisiertem Fallschirmauswurf oder ein sensorgesteuertes Bremslicht am Fahrrad entwickelte. Diese Neigung hat er sich in seinem Winzerleben bewahrt: Dolde ist für Horizonterweiterung in allen Lebenslagen, er integriert Stilelemente aus dem Naturweinbereich, er experimentierte schon vor 20 Jahren mit ersten Pét-Nats, da taten sich die coolen Hipster unter den Sommeliers noch schwer, den Begriff zu buchstabieren. In den USA bekommen die Flaschen ein buntes Etikett verpasst – Doldes eigene sind schlicht unkonventionell gehalten. „Die denken, dass mein Pét-Nat von einem jungen Wilden mit bunten Tatoos kommt“, sagt er amüsiert. Aber er ist aufgeschlossen, auch was die sozialen Medien angeht, nebenbei mache er auch „ein bisschen Instagram für die Amerikaner“.

„Die denken, dass mein Pét-Nat von einem jungen Wilden mit bunten Tatoos kommt“, sagt er amüsiert.
"Silvaner kann kein Terroir vermitteln? Ich kann das Gegenteil beweisen!"

Dolde erzeugt gleich drei Silvaner von seinen unterschiedlichen Bodenformationen. Obwohl Silvaner die lokale Rebsorte schlechthin ist, war er für viele Weinbauern nur ein notwendiges Übel. „Silvaner macht Arbeit und liefert keine Masse. Die schwäbischen Wengerter dachten aber immer an Kilo und Oechsle und nicht an Qualität.“

Für ihn dagegen ist Silvaner der beste Übersetzer des Terroirs: „Oft wird behauptet, dass er kein Terroir vermittelt. Ich kann das Gegenteil beweisen, indem ich drei verschiedene Flaschen aufmache. Silvaner ist total empfänglich dafür.“ Seine in schwäbischer Eiche ausgebauten Spätburgunder, die sich mühelos das Prädikat Pinot Noir verdienen, zeigen großes Reifepotenzial: Der aus dem Jahrgang 2010 zeigt eine aristokratische Kühle und erinnert mit seiner erdigen Aromatik an Pinots um die Gemeinde Morey-Saint-Denis an der Côte de Nuits.

Da steppt der Bär! Helmut Dolde verkostet seinen (gleichnamigen) New York approved Pét-Nat.

In der lebendigen Württemberger Weinszene wird der leidenschaftliche Autodidakt mit seinen Bergweinen längst respektiert und anerkannt: Seine Lust auf Experimente, Entdeckungen und Verbesserungen ist auch mit mittlerweile über 70 Jahren ungebremst.

Doldes Lust auf Experimente ist auch mit  über 70 ungebremst.

Nur bei der Preiskalkulation bleibt der Winzer konservativ: Dolde hat mit die fairsten Preise in Württemberg, selbst moderate Erhöhungen sind ein langwieriger Prozess, verbunden mit langen Diskussionen in der Familie und mit der Kundschaft. Weinbau ist für Dolde immer auch auch Landschaftsschutz, von seinem Onkel Fritz übernahm er die kleine Produktion der Apfel- und Birnenerzeugnisse aus den alten Streuobstwiesen um Linsenhofen. Dolde, der auch bei Slow Food aktiv ist, engagiert sich stark für die rare Schwarze Birne, die nur im Neuffener Tal erhalten werden konnte und aus der er einen Schaumwein erzeugt.

2023 kelterte er seinen 43. Jahrgang, „ich habe immer mehr Respekt vor den Besonderheiten der Lagen“, sagt er. Zunächst habe er es als „Mangel angesehen, dass wir diese Bedingungen haben“, inzwischen weiß er, dass Klima und Bodenformationen im Neuffener Tal eine einzigartige Verbindung eingehen:„Geologie und Höhe sind inzwischen Alleinstellungsmerkmale.“ Dolde weiß, dass sich auch bekannte Württemberger Winzer für den „ganz speziellen Geo-Mix“ im Neuffener Tal interessieren. „Es wird langsam richtig spannend her“, sagt er, „ich müsste nur noch mal 30 Jahre jünger sein.“