Neulich nahm ich meinen Aperitif in einer Bar im Quatier des Halles, den ehemaligen Markthallen, die durch Emil Zolas Roman Der Bauch von Paris Bekanntheit erlangt haben.
Das ist keine Bar, die man in einem Touristenführer findet, sondern ein eher einfacher Ort,
"Es gab ja keinen Plan. Es geschah einfach."
wo man all die Charaktere des Quatiers antrifft, wo die Aufschrift auf den alten Pastis-Gläsern nicht mehr zu lesen und der Wein vom Fass ist.
Der Wein übrigens, auf mein Nachfragen, wurde ohne Zusatzstoffe und Schwefel hergestellt. Er würde sich also als Vin naturel qualifizieren. „Mag sein“, sagt der Wirt teilnahmslos, „wir mögen es hier halt so!“
Was anderenorts Sommeliers ihrer hippen Klientel als Naturwein einschenken, wird hier von Schuster, Schreiner oder Buchbinder nach der Arbeit genossen. Als wäre es schon immer so gewesen. War es das? Das wirft die Frage auf, wie und wann kam der Vin naturel eigentlich nach Paris?
Recherchieren wir in der Vergangenheit des Vin naturel. Gegen Ende der siebziger Jahre entwickelte sich im Beaujolais der Wunsch wieder zum Terroir zurückzufinden, zurück zu einer gesunden Landwirtschaft und zu einem ausdrucksstarken Wein.
Der Wunsch zum Terroir, zur gesunden Landwirtschaft zurückzufinden.
Grund dafür waren die Verheerungen, die der industrielle Weinbau in der Region angerichtet hatte. Um den Wissenschaftler Jules Chauvet entstanden mit Hilfe von Jaques Néauport und Marcel Lapierre die ersten Versuche im Ausbau ohne Schwefel. Chauvet forschte auch über den biologischen Säureabbau und die intrazelluläre Gärung, die so genannte Kohlensäuremaischung. Néauport half dabei, die Ergebnisse von Chauvet in die Praxis zu überführen. Doch war es nie das erklärte Ziel des Trios, den Schwefel zu eliminieren - Chauvet war dem Schwefel mitnichten abgeneigt. Es ging ihm um die Menge. Und den Grund.
Das Beaujolais war in jedem Fall Ausgangspunkt und Keimzelle dieser Art Weinherstellung. Am Anfang stand ein loser Zusammenschluss befreundeter Winzern, die vom amerikanischen Importeur Kermit Lynch als Gang of Four bezeichnet wurden. (Lapierre, Thevenet, Breton, Foillard).
„Das ist doch kein Wein!“ soll ein Kunde ausgerufen haben.
Das Augenmerk dieser Pioniere richtete sich auf die Arbeit im Weinberg, denn hier – so sagen (nicht nur) sie – entsteht die eigentliche Qualität. Gleichzeitig wurde die Kellerarbeit peu à peu umgekrempelt. Geschwefelt und ungeschwefelt, filtriert und unfiltriert usw.
Die Ergebnisse wurden gemeinsam verkostet, bewertet und diskutiert. So entstanden auch die ersten Vin naturel Salons. „Wir mussten damals leider einige Fässer zum Verwerten in die Destillerie bringen“ erzählt Jean Foillard bei einem Mittagessen, „denn natürlich ging nicht immer alles gut.“ Auf die Frage, was er seither dazu gelernt hat, sagt er lachend: „Nicht viel, scheint mir.“
Später kamen weitere Winzer aus anderen Regionen wie der Rhône (Philippe Laurent von Gramenon, Marcel Richaud) dem Jura (Pierre Overnoy) und der Loire (Catherine und Pierre Breton, Thierry Puzelat) hinzu. Heute gibt es allein in Frankreich schätzungsweise mehr als 400 Produzenten, mit steigender Tendenz.
Die ersten Naturweine sind Anfang der 80iger Jahre in Paris aufgetaucht. Das verwundert! So früh schon? Doch so ganz genau kann das keiner mehr sagen, eventuell doch erst Mitte der Achtziger. Es gab ja keinen Plan. Es geschah einfach.
Zunächst war es nur eine Clique von Eingeweihten, die Qualität und Ausdruck der Weine verstand und zu schätzen wusste. Darunter waren auch drei Gastronomen die diese Naturweine kauften und in ihren Bistros La Courtille (Francois Morel und Bernard Pontonnier), Les Envierges (Francois Morel und Bernard Pontonnier) und L'Ange vin (Jean-Pierre Robinot) anboten. Diese Lokale, heute leider nicht mehr existent, waren das erste Handelszentrum der „natürlichen Weine“.
Für viele war der erste Kontakt mit den Naturweinen dann auch ein Schock. Man kann nicht sagen, dass die Weine ein unmittelbares Erweckungserlebnis ausgelöst hätten. „Das ist doch kein Wein!“ soll ein Kunde ausgerufen haben. Doch das seltsam Getränk fand nach und nach mehr Zuspruch. Beim einfachen Volk. Naturwein-Hipster gab es damals nicht
„Viele der härtesten Kritiker, meistens andere Winzer, stellen heute selbst Vin naturel her“, sagt der Enzyklopädist des französischen Weins und Buchautor Francois Morel, der das erste Buch über Naturwein geschrieben hat. Mit den Jahren kamen dann auch mehr und mehr Kunden, die nach unbehandelten Weinen verlangten und Ende der 90iger begann daraus ein Trend zu werden.
Die drei ersten Naturweinbistros waren einfach und günstig. Das hat der Bewegung geholfen, Fuß zu fassen. Man konnte dort viel probieren und sich über die Weine und ihre Machart austauschen. Häufig waren die Winzer selbst vor Ort und gaben Auskunft, was es denn mit diesen ominösen Naturweinen auf sich hätte. Man konnte auch mal etwas mehr trinken, ohne am nächsten Tag einen Kater zu riskieren. Außerdem lernte man einander leichter kennen. Wir reden hier immerhin vom Franzosen, bei dem das Essen, der Wein und die Liebe ja bekanntlich untrennbar miteinander verbunden sind.
Der Aufstieg der Vins naturels ist mit einem Phänomen der französischen Gastronomie verbunden, dem man später den Name Bistronomie gab - im Kern eine Demokratisierung der Haut Cuisine. Die jungen Köche, die in den Gourmettempeln von Paris arbeiteten, hatten die steife Atmosphäre und das Theatralische satt. Der Service im Restaurant sollte entstaubt und die Küche mit guten, bezahlbaren Produkten einem größeren Publikum zugänglich gemacht werden.
"So eine Bewegung, die alles entstaubt, verlangt nach einer neuen Art Weinkultur, auf die sie bauen kann."
So eine Bewegung, die alles entstaubt, verlangt geradezu nach einer neuen Art Weinkultur, auf die sie bauen kann. Einer der ersten Händler, der Vin naturel nach Paris brachte war Jean-Christophe Pique Boisson. Und einer seiner ersten Kunden war kein geringerer als Yves Camdebord, der Godfather der Bistronomie-Szene. Von dort aus eroberte der Naturwein die französische Hauptstadt.
Aber wo trinkt man heutzutage Vin naturel in Paris? Um diese Frage zu klären bin ich ein paar Tage trinken gewesen.
An wenigen Orten in Paris wird der Vin naturel und die frische, produktfokussierte Küche so zelebriert wie im Baratin. Es ist die Magie von Raquel Carena, gebürtige Argentinierin und autodidaktische Köchin, die alle großen Chefs (wie Olivier Roellinger, Pierre Hermé oder Inaki Aizpitarte von Le Chateaubriand) in die Rue Jouye-Rouve am Ménilmontant lockt. Sie führt ihr Bistro schon seit fast 30 Jahren, kurz vor dem Service schreibt sie seither jeden Tag zu Mittag mit zarter Hand die Tagesgerichte auf die Schiefertafel. Die andere Hand hält eine Zigarette.
Das Baratin ist eines der letzten Bistros jener ersten Welle des Naturweins, das noch geöffnet hat. Ein nostalgischer Ort – das Epizentrum des Vin naturel! Philippe Pinoteau kuratiert hier die Weinkarte. Hier macht man aus dem vermeintlich Einfachen, das unerwartet Besondere. Nicht auf der Karte, aber meistens vorhanden ist ein ausgezeichnetes Ris de veau de coeur (Kalbsbries), mit einer wunderbar delikaten Sauce. Cyril Bordarier machte mit seinem Lokal Verre Volé aus der Not eine Tugend und macht damit sichtbar, wie sich die Pariser Gastronomie organisch entwickelt.
Bordarier arbeitete mehrere Jahre lang bei einem bekannten Weinhändler und hatte irgendwann die Nase voll von den immergleichen Weinen aus dem Bordelais und Burgund. Er war öfter in der Baratin und kam so relativ schnell auf den „neuen“ Geschmack.
„Wir haben viel probiert und die Winzer besucht“, erinnert sich Bordarier, „neben der Offenheit und Freundlichkeit der meisten Winzer, hat mich auch ihre Qualitätsbesessenheit beim Essen fasziniert“. Der Respekt für das Produkt und das damit zusammenhängende Handwerk, sind nach wie vor zentraler Bestandteil der Philosophie im Verre Volé.
Entstanden ist das Verre Volé aus einer Weinhandlung mit Küche (cave à manger).
Den Kunden wurde zu Beginn zunächst klassische Charcutérie & Fromage angeboten. Man zelebrierte hier seinen Aperitif. Irgendwann kamen dann kleine, einfache Gerichte hinzu. “Wir haben zu Beginn auch Sandwiches in einem alten Salamander überbacken“ erinnert Bordarier sich lachend. Heute kriegt man im Verre Volé neben kreativen Kreationen, die ganzen Klassiker der französischen Bistrotküche, also Boudin Noir, Cochon de lait oder Andouillette, immer serviert mit frischem Salat und einem traumhaften Kartoffelpüree.
"Die Kunden haben die Weine nicht immer verstanden."
Natürlich hatte das Verre Volé keinen einfachen Start. „Die Kunden haben die Weine nicht immer verstanden und wir waren ständig am Tisch um zu erklären und aufzuklären.“ erzählt Bordarier. Durch gute Bewertung von Kritikern und die Erwähnung im neu entstandenen Restaurantguide Le Fooding ließ der Erfolg der Naturweine aber nicht lange auf sich warten. Neben dem Verre Volé hat Bordarier auch noch einen Weinhandel, eine Épicerie (Delikatessengeschäft) und ein Fischrestaurant aufgemacht.
Das Bistro in der Rue de Lancry bleibt aber die Homebase und der Chef berät auch noch heute jeden einzelnen Kunden in Sachen Naturwein. Aus der kleinen Küche kommt großartiges Essen, etwa ein bretonischer Hummer mi-cuit, an fermentierten Walderdbeeren und Vinaigre de Jerez - ein Gericht, das mir aufgrund seiner simplen Genialität immer im Gedächtnis bleibt.
In der Bistronomie verschwimmen zusehends die Grenzen zur Sternegastronomie. Die Auswahl und Qualität der Produkte, die den Gastronomen in Paris zur Verfügung stehen ist nach wie vor europaweit einzigartig und derart nur noch in Dänemark oder Japan zu finden, wo das Essen einen ähnlich hohen Stellenwert hat, wie in Frankreich.
Die Antwort heißt Neobistrot.
Wohin entwickelt sich die junge Küche von Paris? Vor allem, da viele junge Genießerinnen und Genießer sich die Sterneküche nicht mehr leisten wollen. Die Antwort heißt Neobistrot. Die heißen Septime, Saturne oder Dersou – und hier herrscht jenes Leben, das nur in Paris gelebt wird. Diese Stadt frönt einfach der Lebensfreude.
Eines der szenigen neuen Neobistrots liegt ein wenig versteckt an den Gleisen des Gare Saint-Lazare zwischen den Batignolles und dem schicken 8ten Arrondissement.
Das Gare au Gorilles existiert seit November 2014 und ist der verwirklichte Traum von Marc Cordonnier und Louis Langevin. Die beiden haben sich auf der Gastronomieschule kennengelernt.
„Ziel war es, unser erstes eigenes Restaurant zu eröffnen bevor wir 30 werden“ erzählt Louis, der sich als Sommelier um die Weinauswahl kümmert.
„Mein Vater war Koch und ich war schon als kleiner Junge immer in der Küche unterwegs“ erinnert sich Marc Cordonnier. Die Schule war nicht so seins und kochen mochte er gerne - so entschied er sich zu einer Ausbildung. Es folgten Stationen in der Ze Kitchen Galery, bei Alain Passard im L'Arpege und unter Bertrand Grébaut schließlich im Septime – Hochküche par excellence. Der Fokus lag in diesen Restaurants auf „absoluter Produktqualität“ - das hat sich im Hirn des Küchenchefs Cordonnier eingebrannt.
Die jungen Köche der Neobistrot-Szene kennen einander, helfen und unterstützen sich. Brennt es irgendwo, stehen sie ihren Kollegen bei. Solidarisierung ist in Frankreich eine Art Kulturgut. Als eine Woche nach der Eröffnung Altmeister Alain Passard das Gare au Gorille für eine Veranstaltung nutzte und der Fooding-Gastroführer gleichzeitig eine sehr positive Rezension schrieb, stand das Telefon nicht mehr still. Bis heute.