Mein Rausch der Anderen

Gerhard Retter ist einer der bekanntesten Sommeliers Europas. Und er wettert gegen den einen seiner Gäste, den Etikettentrinker, dem es am Ende des Abends nur um das Betrinken geht. Darf Retter das? Ja! Denn manchmal ist er auch nur einer jener Leute, die er hier heftig kritisiert.

Es gibt viele Trinker: Biertrinker, Teetrinker, Schorletrinker, Milchtrinker, Whiskytrinker, Kaffeetrinker, den Nur-im-Flugzeug-Tomatensaft-Trinker, die Wasweißich-Trinker. Und es gibt den Weintrinker. Also mich, sie, die zwei da am Nebentisch, uns. Wer sind wir?

Sehen wir uns als etwas Besonders? Mal ehrlich: Das tun wir. Doch ist es gerechtfertigt?

Was macht uns passionierte Weintrinker aus? Sonnen wir uns lediglich im strahlenden Ruf eines Kultgetränkes? Oder ist es doch Genuss, Stil, Freude und Geschmack? Sehen wir uns als etwas Besonders? Mal ehrlich: Das tun wir. Doch ist es gerechtfertigt? Und wieviel Scheinheiligkeit, Selbstbetrug und bloßes Säufertum verbergen wir?

Das halte ich für eine mehr als gerechtfertigte Frage, denn ich habe über die Jahre bei vielen Bekannten den Verfall erlebt, bei welchem aus anfänglichem Genuss bloß reines Wirkungstrinken wurde, das in jenem Moment beginnt, in dem der Alkohol das Kommando übernimmt. Bei einem alkoholischen Getränk darf einem das nicht wirklich wundern. Doch es ist eine Sache der Persönlichkeit, ein Belang des Trinkers selbst, wie er mit dem Alkohol zurechtkommen will. Lässt er ihm das Kommando, so ist er selbst dafür verantwortlich.

Sie merken, wo ich hinwill: Nicht der Genuss und die Wirkung der Weine sind zu verurteilen, sondern die Maßlosigkeit ihrer Trinker, die sich nach fortlaufender Stunde mit peinlicher Kulturlosigkeit vereint. Gepaart mit einer gut gefüllten Brieftasche oder einem zum Bersten vollen Kreditkartenkonto, beginnt das Wirkungstrinken zum Vernichtungstrinken zu verkommen. Zum Vernichten des Ansehens der Person. Und zum Vernichten, exzellenter, folglich teurer Weine. Je später der Abend, desto rarer, teurer und unsinniger werden die geleerten Flaschen.

Je später der Abend, desto rarer, teurer und unsinniger werden die geleerten Flaschen.

Das schmerzt! Warum nicht zu Beginn das Beste trinken? Und zum Saufen einen einfachen Wein hernehmen? Es müsste eine Art Wegtrinksperre für Weine geben, sodass die Flasche ab einem gemessenen Promillestand (ich empfehle 1,2) nicht mehr zu öffnen ist. Also eine Art „Trinkführerscheinentzug“. Der hätte auch mich selbst schon oft vor nächtlichen Vandalismus im eigenen Keller bewahrt. Im morgendlichen Anblick der vernichteten und nicht genossenen Weine überkam mich dann immer das späte Gefühl der Schande. Und des Verlusts. Wer mit sich ins Reine kommt, der kann aus solchen Nächten zumindest eine Lehre ziehen.

Jetzt gibt es allerdings eine Spezies von Weintrinkern, die ich schlichtweg verachte und die mir die Galle hochkommen lässt. Ich nenne sie die "Säufer mit der Tarnkappe.“ Sie (es sind meistens, ja immer Männer) tarnen ihr zur Sucht gewordenes Verlangen mit teueren, hochklassigen und klangvollen Weinen und kaufen sich so eine Expertise ein, die sie gar nicht besitzen. Der Tarnkappensäufer versteckt seine Sauflust im Schatten des Weingenuss: er öffnet eine Granate nach der anderen, begleitet von Lobhudelei und lautem Namedropping, untermalt von Erzählungen, wo er den Wein schon mit wem und bei welcher Gelegenheit getrunken hat.

Geht es da um Qualität? Nein! Geht es um den Wein? Nein! Es geht um einem selbst. Und das Besoffensein. Vom Alkohol besoffen. Von sich selbst besoffen. Eine ungute Kombination.

Wo ist der Respekt vor dem Produkt? Wo die Anerkennung der Arbeit des Winzers?

Wo ist der Respekt vor dem Produkt? Wo die Anerkennung der Arbeit des Winzers? Wo auch das Wissen um die Gnade, Natur mit Kultur erleben zu dürfen? Was unterscheidet den Tarnkappen-Säufer vom Massenplörren-Säufer, der seinen Fusel an der Tanke holt? Nichts! Denn hinter der besseren Uhr, der besseren Kleidung und dem besseren Wein steckt die gleiche Art Lebensversager. Wobei ich das Lebensversagen nicht am Einkommen festmache.

Ist der brionibekleidete Sassicaia Rausch tatsächlich edler als jener, den man vom Roten Storch bekommt, einem bekannten österreichischen Massenwein, der Generationen von Proleten (hier sicher nicht abfällig gemeint!) die Sorgen vergessen ließ. Nein, ist er nicht!

Wein sollte man aus Genuss und Freude konsumieren. Wer Wein trinkt, um betrunken zu werden, kommt mit Schnaps schneller ans Ziel. Und selbst mit Schnaps kann man mit guten Fruchtdestillaten Distinktionsgewinne erzielen. Doch auch da sind diese Distinktionsgewinne nicht angebracht. Wer sich ansaufen will, und mit seinem Ansaufen auch Eindruck erzielen will, ist einfach nur erbärmlich.

Das sage ich als Sommelier, sage ich als Wirt und Unternehmer. Und manche werden jetzt sagen: „Da lehnt er sich aber weit hinaus“. Stimmt! Aber einer muss damit beginnen. Und sich auch mal trauen. Vor allem, wenn man sich selbst mal in der Situation erlebt hat, eine Flasche großartigen Weins vernichtet zu haben, nur um vor anderen besser dazustehen; nur um seinen Rausch hochwertiger zu gestalten; nur um erleben zu dürfen, dass dieser Rausch am nächsten Morgen als dumm miauender Kater auf der Kellertreppe hockt und den Weg versperrt. Wer im Glashaus sitz, der werfe den ersten Stein. Ich sitze im Glashaus. Ich werfe, Ich darf.

Autor: Gerd Retter

Dieser Artikel ist in Schluck - Identität - Ausgabe 1 erschienen.
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Über Gerhard Retter

Gerhard Retter, Wirtshauskind aus der Steiermark, lebt und liebt die Arbeit als Maître und Sommelier. Sein weitreichendes Wissen, die langjähre Erfahrung und der austriakische Schmäh machen ihn zum gefragten Ratgeber und charmanten Redner für Gastronomie und Hotellerie. Retter bewegt sich stilsicher zwischen dem Heimathafen am Lütjensee und dem Berliner Restaurant Cordo ehemalig die Weininstitution Cordobar.

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