Wein, so kann man überall lesen, ist ein komplexes, kulturell wertvolles, vielschichtiges, ja fast schon kompliziertes Nahrungsmittel. Wurst hingegen gilt als gewöhnlich. Man kann Wurst, das gewöhnliche Lebensmittel, freilich verfeinern. Aber ohne dabei viel Wind zu machen. Es ist ja nur Wurst.
Sommeliers und anderen Weinerklärern wird mit Ehrfurcht zugehört. Sie besitzen die Deutungshoheit über ein anerkanntes Kulturgut. Ein Wurstkenner hingegen verbreitet bloß skurrile Komik. Wurstkenner? Was soll der sein? Ist Wurst nicht wurst? Nein, ist sie nicht!
Irgendwann habe ich angefangen, mich als Wurstelier zu bezeichnen, eine Verballhornung, ein Protest, weil ich es leid war, dass mein Schreiben über Wurst, dieses einzigartige, erweiterte Grundnahrungsmittel, nicht jenen Status der Vollwertigkeit erlangt, den die Schreibe über Wein wie selbstverständlich für sich behauptet.
Wurstkenner? Was soll der sein? Ist Wurst nicht wurst? Nein, ist sie nicht!
Handwerklich hergestellte Wurst- und Schinkenspezialitäten sind handwerklich hergestelltem Wein in ihrer Vielschichtigkeit und Diversität gleichgestellt.
Ich denke sogar, dass Wurst – vom Ackerboden, auf dem das Futter für das Tier wächst, über die Rasse, den Akt der Schlachtung, bis hin zur Verarbeitung durch den Metzger – ein ähnlich komplexes Universum abbildet wie jenes des Weins.
„Unsere Ernährungskrise ist eine Krise der Kultur“, schreibt Michael Pollan, der derzeit wohl einflussreichste akademische Autor über Nahrung und Nahrungsmittel, und verdichtet so den Verlust, den wir alle gerade erleiden und dulden. Kaum ein anderes Handwerk hat in den letzten Jahrzehnten so große Rückschläge hinnehmen müssen wie jenes des Metzgers.
50 Prozent aller Fleischereien in Deutschland haben in den letzten 10 Jahren dichtgemacht, im Rest Europas – ausgenommen Teile Südeuropas – sieht es nicht viel besser aus.
Für Fleischverarbeiter, die Qualität herstellen wollen, ist es zudem kompliziert geworden, noch an gutes Fleisch heranzukommen. Man könnte deswegen annehmen, dass weniger Fleisch gegessen wird. Doch das Gegenteil ist der Fall. Es wird mehr Fleisch gegessen. Billigeres Fleisch, Fleisch ohne Kultur, Masse mit Macht.
Das bedrohte Terroir der Wurst
In jedem Reifekeller einer traditionellen Metzgerei sind eigene Fermentationshelfer und Schimmelarten am Werk, die sich über lange Zeit entwickeln. Erinnert Sie das an Wein? An einen Weinkeller? Stimmt! Ähnlich wie beim Wein machen diese unterschiedlichen Milieus einen Teil des Terroirs einer Wurst oder eines Schinkens aus. Doch in den hochmodernen Produktionsstätten aus Edelstahl, die nach jeder Schicht klinisch rein desinfiziert werden, lässt sich dieser Geschmack nur mit Zutaten aus der Aromaindustrie herstellen.
Besser gesagt die Erinnerung an diesen Geschmack. Erinnert Sie das wieder an Wein und die Weinherstellung? Stimmt! Tut es!
Mit jeder Metzgerei, die stirbt, verlieren wir Wissen, Rezepte und einmalige Aromen – ein unschätzbares kulinarisches Kulturerbe geht verloren.
Erinnert Sie das auch an Wein? Nein. Tut es nicht, kann es nicht tun. Denn bei Wein geht die Entwicklung erfreulicherweise in eine andere Richtung: die traditionelle Herstellung ist Teil eines Aufschwungs geworden, einer Bewegung hin zum verfeinert Ursprünglichen. Das ist eine gute Entwicklung. Gäbe es sie doch überall. Und gäbe es sie vor allem bei Fleisch und Wurst.
Durch die Industrialisierung der Landwirtschaft sind viele alte Tierrassen nahezu ausgestorben. Beim Wein hingegen werden autochthone Sorten wiederentdeckt und gefeiert. Eine kleine Minderheit bewusster Konsumenten beginnt, die verlorene Vielfalt der Fleischprodukte inzwischen wahrzunehmen. Doch wird diese suchende Minderheit kaum noch gute Metzger finden, die richtig landwirtschaftliches Fleisch anbieten und aus diesem Fleisch auch hervorragende, individuelle Wurst herstellen. Metzger, die würzen können? Metzger, die Rezepte schreiben? Woher sollen die kommen? Wer bildet sie aus? Junge Winzer finden Önologen, die eine Lehre und einen Zugang teilen. Junge Metzger? Was finden die?
Meine Hoffnung: Die Fleischrebellion
Seit ich vor einigen Jahren angefangen habe, mich intensiver mit Fleisch und vor allem Wurst zu beschäftigen, entsteht bei mir die Hoffnung (die zur Gewissheit reift), dass es Bauern, Metzger und Fleischverarbeiter gibt, die Herkunft, Tradition, Genuss und vor allem Geschmack wieder klar in den Vordergrund stellen.
Diese Bauern, Fleischer und Köche brechen mit sämtlichen Klischees und zeigen, dass sie sich und ihr Handwerk nicht mehr beiläufig ausüben, sondern stolz auf ihr Können und ihre Diversität hinweisen.
Mit jeder Metzgerei, die stirbt geht ein unschätzbares kulinarisches Kulturerbe verloren.
In den Werkstätten dieser Bewegung entstehen großartige Würste, Schinken und Fleischspezialitäten, die in keinem Supermarktregal zu finden sind – Geschmacksvielfalt und Aromentiefe beweisen, wie dringend wir diese Leute brauchen. In neuen, totalverglasten und folglich einsehbaren Metzgereien und in den frei zugänglichen Workshops des aus dem US-amerikanischen Raum kommenden Meat-School-Movements erhalten interessierte Genießer Einblick in das unverfälschte, antiindustrielle Handwerk. Und erfahren so viel über die Herkunft ihrer Speisen.
Die Macher dieses Meat-School-Movements sind Greenhorns, Quereinsteiger und alte rebellischen Kämpfer, die mit Überzeugung für das Handwerk, die Wertschätzung und den Geschmack kämpfen. Sie ahnen, dass die Zukunft im Vergehen wächst. Und dass es ein Verlangen nach Vielfalt und dem Erhalt der Vielfalt gibt. Auch bei Wurst, diesem als banal eingestuften Fleischprodukt, das für mich so wichtig ist wie für andere der Wein.
Für besseres Fleisch müssen wir unser Bild von denjenigen ändern, die für die Herstellung von Fleisch verantwortlich sind. Wir müssen uns jenen zuwenden, die das Bessere wollen. Und wir müssen lernen, dafür mehr Geld auszugeben, denn diese verantwortungsbewussten Bauern, Metzger und Köche sind viel mehr als nur einfache Dienstleister. Sie sind Vertrauenspersonen, Berater und inspirierende Persönlichkeiten zugleich. Und sie sind unsere Freunde. Es ist Zeit, das klar auszusprechen. Und es ist Zeit, dass man der Wurst und ihrer Herstellung jene Aufmerksamkeit angedeihen lässt, die sie braucht, um nicht mehr wurst zu sein.