Manchmal habe ich das Gefühl, einfach nur die falschen Leute zu kennen. Oder sind es dann doch die richtigen? So trinkt zum Beispiel kaum jemand in meinem extrem trinkfreudigen Freundes- oder Bekanntenkreis Orange Wines, die ja neuerdings unter dem Begriff Vin naturel oder Naturwein zusammengefasst werden.
Manchmal habe ich das Gefühl die falschen Leute zu kennen. Oder doch die richtigen?
Auch in unseren Läden wurde in den letzten fünf Jahren insgesamt vielleicht drei bis vier Mal nach dieser anscheinend so raren und begehrten Weinspezies gefragt. Die im Verkauf zu erkennenden, den Weinhandel bestimmenden Trends sind hingegen ganz andere. Ich will sie nennen.
Ein ganz bedeutender Trend ist der zunehmende Hang zu verdeckter Restsüße. Die meisten Menschen, die schon einmal den Weg in den Weinfachhandel gefunden haben – also bereit sind, für eine Flasche Wein mindestens 4 Euro auszugeben –, definieren sich laut Umfragen als Anhänger trockener Weine. Letztes Jahr hingegen entnahm ich dem Weinhändler-Zentralorgan Die Weinwirtschaft, dass ein süditalienischer Primitivo mit 13 Gramm Restzucker pro Liter die Verkaufs-Charts anführt. Keine Rede von trocken also.
So recht überraschen konnte mich das aber nicht: Jedes Jahr, wenn rund 4000 Menschen unsere Hausmesse Vinorell in Hamburg besuchen, wird an einem bestimmten, von vielen glücklichen Genießern umringten Stand deutlich mehr probiert als anderswo. Nämlich an jenem Stand, wo der Segreto Rosso aus Italien ausgeschenkt wird. Der Wein ist eine harmonische Cuvée der beliebten süditalienischen Rebsorten Primitivo und Malvasia Nera. Auch dieser Wein hat 13 Gramm Restzucker und liegt somit – wie der vorhin erwähnte Primitivo – im halbtrockenen Bereich. Doch 90 Prozent der Weintrinker, die diesen Stil bevorzugen, werden ihren eigenen Weingeschmack trotzdem als trocken definieren.
Ihr „Ich trinke nur trocken“ ist also Humbug!
Ihr „Ich trinke nur trocken“ ist also Humbug. Ihr Geschmack deswegen aber keineswegs schlecht. Beim Weißwein ist es oft nicht viel anders. Selbstvermarktende deutsche Winzer kennen dieses Phänomen schon lange: Immer wieder empfangen sie Kunden auf dem Hof, die felsenfest versichern, nur trockene Weine zu trinken, um nach der Weinprobe mit Kartons halbtrockener Weine zurück nach Hause fahren. Und gerade die deutschen Rieslinge – mit ihrer teils recht ausgeprägten Säure – werden erst oft erst richtig charmant, wenn sie eine etwas höhere Süße haben, also gering über der gesetzlichen Obergrenze für trockene Weine von 9 Gramm pro Liter liegen. Wenig hilfreich ist da nur, dass die Menschen ihre Weine zum Teil auch unter Prestigeaspekten kaufen und trinken. Und da hat trocken nun mal das bessere Image. Der Begriff halbtrocken jedoch klingt eben leider nicht besonders toll – so wie halbstark oder halbgar – nix Halbes und nix Ganzes halt. Das ist ein echter Verkaufskiller.
Eine andere ausgeprägte Tendenz ist der Hang der deutschen Weintrinker zu sortenreinen Weinen, also Weinen, die aus nur einer Rebsorte bestehen. Der Deutsche glaubt gemeinhin, dass ein Wein aus nur einer Rebsorte grundsätzlich besser ist als eine Cuvée, also ein Verschnitt aus verschiedenen Traubensorten. In anderen Ländern gilt die Cuvée als hohe Kunst der Önologie. Ist ja auch logisch, besteht ja nahezu jeder große Bordeaux aus drei bis vier Rebsorten. So bleibt ein mäßiger, reinsortiger Merlot eben immer nur ein mäßiger, reinsortiger Wein. Aber Hauptsache reinsortig. Das scheint das Wichtigste, denn wenn die Rebsorte alleine auf dem Etikett steht, und so den Wein als reinsortig ausweist, dann ist die Herkunft des Weines dem Konsumenten meist egal.
Aber reinsortiger Wein ist sehr oft auch ein Verschnitt. So erlaubt es die relativ neue Weinkategorie Vin de France den französischen Handelskellereien, Rebsorten aus allen Regionen des Landes auch reinsortig miteinander zu verschneiden – im Gegensatz zur Kategorie Vin de Pays, wonach der Wein, auch der Verschnittwein, immer aus einer bestimmten Region stammen muss. Meines Wissens hat uns noch nie ein Kunde gefragt, ob jetzt dieser oder jener Rebsortenwein aus Frankreich ein definierter Herkunftswein oder ein Verschnitt aus vielen Regionen ist. Komisch, oder? Oftmals ergänzen sich Rebsorten ja ganz vorzüglich und ergeben in der Summe deutlich mehr Genuss.
Meine Gäste bekommen säurebetonte Rieslinge...
Das merke ich jedes Jahr, wenn mein Kollege Vitus und ich unsere jährlichen Einkaufsreisen zu jenen deutschen Winzern antreten, deren Weine wir handeln. Dann probieren wir die Weine im Fass, suchen uns die besten Fässer aus (das dürfen wir nur, weil wir langjährige Geschäftspartner sind) und lassen sie entweder so abfüllen, wie sie sind, oder erstellen gemeinsam mit den Winzern spezielle, subtil ausbalancierte Cuvées. Dadurch werden viele Weine oft besser, komplexer und vielschichtiger.
Beispielsweise ist Chardonnay sehr häufig eine perfekte Ergänzung zum Weißburgunder und ich habe einige der brillantesten und feinsten Weißburgunder dadurch kreiert, indem ich sie mit 10-15 Prozent Chardonnay vom gleichen Erzeuger finalisiert habe. Das ist gesetzlich erlaubt und man muss das nicht auf dem Etikett anführen – der Chardonnay bleibt Chardonnay. Wenn ich aber nur einigen Weintrinkern ganz stolz erzählen würde, dass wir durch geringen Verschnitt, der die Bezeichnung der Sorte auf dem Etikett nicht ändert, ein paar perfekte Weine geschaffen haben, dann würden die mich so entsetzt ansehen, als ob ich soeben gebeichtet hätte, einen Haufen selbst geklauter, minderjähriger Silberlöffel vergewaltigt zu haben.
... sperrige Nebbiolos und komplizierte Pinot Noirs.
Die beliebteste Weißweinrebe bei Weintrinkern ist übrigens aktuell der Grauburgunder. Mit ihrer leicht verständlichen Frucht- und Honigaromatik, der goldgelben Farbe und der milden Säure entsprechen die gelungeneren Grauburgunder exakt den derzeit vorherrschenden Geschmackspräferenzen. Bei den Rotweinen sind es – neben den schon erwähnten Süditalienern – vor allem spanische Tempranillos, oft aus einem Fass aus amerikanischer Eiche, mit daraus resultierenden sanften Kokos- und Vanillearomen.
Auch ganz oben auf der Weinwunschliste stehen schmusig-weiche, anschmiegsame Shiraz oder Syrah aus allen Ländern, auch jenen der Neuen Welt, welche die Herzen und Gaumen der Menschen betören und bei internationalen Weinwettbewerben die Goldmedaillen abräumen. Ich malträtiere derweil unsere Gäste daheim mit säurebetonten Rieslingen, sperrigen Nebbiolos und komplizierten, dem Introvertierten zusprechenden Pinot-Noirs. Die muss schließlich auch irgendwer trinken. Und demnächst, versprochen, machen wir mal eine Orange-Wine-Probe.
(A.d.R. Gerd Rindchen war über 40 Jahre lang der Kopf und das Gesicht vom "Rindchen Weinkontor". Um die Nachfolge im Betrieb zu regeln, verkaufte er und seine Frau die Gesellschaft im Jahr 2019 an die Schloss Wachenheim AG.)