Aus dem Autoradio schallt ein Klavierkonzert von Mozart und untermalt sanft unsere ruppige Fahrt. Denn wir ruckeln und schaukeln über die holprige, unbefestigte Straße, die zu Serra Ferdinandea führt. „Unsere Autos brauchen ständig neue Stoßdämpfer“, sagt Cecilia Carbone lachend, während ich gegen leichte Übelkeit ankämpfe. Ohne Allradantrieb kommt man hier eh nicht voran. Hier, das ist zwischen Sambuca di Sicilia, Sciacca und Menfi im Südwesten Siziliens, wo das 110 Hektar große Anwesen liegt, zu dem Wälder, Weinberge, Weizen- und Kichererbsenfelder, Bienenstöcke, Feigenbäume und fünf Kühe gehören. Von Menfi aus fahren wir rund 20 Minuten: zum größten Teil über Straßen, die man ohne Navi niemals finden würde.

 A place in the middle of nowhere.

Schließlich stehen wir vor einem kleinen Neubau mit Verkostungsraum. Strom gibt es noch nicht, alles wird mit einem Generator betrieben. Unnötig zu erwähnen, dass es auch kein Wifi gibt. An manchen Stellen hat man sogar keinen Handyempfang. A place in the middle of nowhere. Digital Detox.  

„Unser Leben ist bestimmt von Arbeit, Hektik und dem Fluch, immer und überall erreichbar zu sein. Auf Serra Ferdinandea sollen die Menschen abschalten können, von Smartphone und Stress. Unsere Gäste sollen in Kontakt mit ihrer Umwelt treten. Hier Zeit zu verbringen, bedeutet Ruhe und Detoxing. Auch für mich ist das nach vielen Jahren immer noch magisch“, schwärmt Cecilia über ihren Arbeitsplatz, der so viel mehr für sie ist als nur ein Ort zum Geld verdienen.

Artenvielfalt und seltene Bienenvölker

Wir starten den Besuch mit einem Spaziergang. Nur so könne man Serra Ferdinandea wirklich begreifen, meint Cecilia. Und so tauche ich ein in ihre fabelhafte Welt. Nur das monotone und gleichzeitig so beruhigende Konzert der Zikaden begleitet uns. Die Oktobersonne wärmt angenehm, es sind herrliche 25 Grad. Meine persönliche Wohlfühltemperatur.

 

Cecilia Carbone denkt groß: Nachhaltigkeit, Kreislaufwirtschaft, Lebendigkeit – mit Vision für ein gesundes Ökosystem.

Schmetterlinge, Insekten, Käfer, verschiedenste Vogelarten… Cecilias Augen strahlen, wenn sie von der Artenvielfalt erzählt. „Bodenanalysen haben bestätigt, dass hier seit rund 400 Jahren nichts angebaut wurde. Es ist daher für uns ein großes Privileg und gleichzeitig eine Verantwortung, diesen Ort behutsam und respektvoll zum Leben zu erwecken“, sagt sie. Die organische Schicht betrage rund 50 Zentimeter, enorm viel im Vergleich zu gewöhnlichen Böden. „Und diese Lebendigkeit gilt es zu erhalten, weil sie Grundlage ist für Resilienz und ein gesundes Ökosystem.“

 

Plötzlich dringt ein wunderbarer Honigduft in meine Nase. Cecilia weiß genau, wo sie suchen muss. „Diese Art von Schaumkraut blüht relativ spät, erst im September und Oktober“, erklärt sie. Obwohl nur zwei, drei Exemplare am Wegesrand stehen, ist die ganze Umgebung von ihrem wunderbaren Duft erfüllt.

  

Auf Serra Ferdinandea summt es gewaltig: 50 Bienenvölker der seltenen „ape nera sicula“ arbeiten hier – und streiken nie.

Nur wenige Meter weiter bleiben wir wieder stehen, diesmal vor einer Art Distelgewächs. Diese wilden Karden seien besonders wichtig, denn sie sicherten das Überleben der Bienenvölker im Winter. Ihre seltene „ape nera sicula“, die schwarze sizilianische Biene, haben sie durch den Imker und Bienenspezialist Carlo Amodeo gefunden. Amodeo hat sie vor dem Aussterben gerettet, nachdem seit den 1970er-Jahren auf Sizilien vermehrt Bienen aus Norditalien angesiedelt wurden, was die einheimische Spezies mehr und mehr verdrängte. Dank seiner jahrzehntelangen Arbeit gibt es wieder den besonderen Honig der „ape nera sicula“ – seit 2008 sogar von Slow Food als Presidio ausgezeichnet.

„Unsere Bienen haben einen enormen Einfluss auf die Biodiversität und das gesamte Ökosystem des Betriebs. Wir haben sogar entdeckt, dass sie die letzten Tropfen Milch trinken, die unsere Kühe nach dem Melken verlieren. Damit sorgen sie automatisch dafür, dass es weniger Mücken gibt, von denen die Kühe sonst genervt werden. Die Natur ist einfach unglaublich.“

Cecilias profundes Wissen über Pflanzen und Landwirtschaft, Geschichte, Kunst und Musik ist beeindruckend. Es macht Spaß, ihr zuzuhören: immer lehrreich, aber nie belehrend. Auch ihr Werdegang ist ungewöhnlich. In Genua geboren, wuchs Cecilia wegen des Jobs ihres Vaters in Hong Kong auf. Nach einem Cello-Studium am Konservatorium, studierte sie Wirtschaftswissenschaften in Mailand und kehrte nach zwei hektischen Jahren in London und New York nach Italien zurück. Sie hatte genug von Trubel und Hektik und schrieb sich an der gastronomischen Slow Food-Uni in Pollenzo ein.

 

Dort lernte sie 2018 den Weinunternehmer Alessio Planeta kennen, der sie nach Sizilien einlud. Der Rest ist Geschichte. Sie nahm wenig später sein Angebot an, die Leitung des neuen Gemeinschaftsprojekts Serra Ferdinandea zu übernehmen, das Planeta mit der französischen Familie Oddo erst vor Kurzem ins Leben gerufen hatte.

  

17 Hektar Reben, biodynamisch bewirtschaftet. Hier bekommt selbst der Wein ein Wellness-Programm.

 

Keine Weine für die Ewigkeit

Auf 17 Hektar wachsen auf rund 400 Metern über dem Meer die beiden Roten Nero d’ Avola und Syrah sowie die Weißen Grillo und Sauvignon Blanc – vier Rebsorten, die die Herkünfte beider Besitzerfamilien vereinen sollen. Bewirtschaftet wird alles biodynamisch, dank der fünf Kühe wird auch das Hornkuhmistpräparat im innerbetrieblichen Kreislauf hergestellt.

 

Der Önologe Calogero Riportella ist für die drei erzeugten Weine verantwortlich. Bei Weiß- und Roséwein wird mit Ganztraubenpressung gearbeitet. „Das war bislang unsere größte Investition in die Kellertechnik und es hat sich absolut gelohnt. Die Weine sind dadurch spürbar frischer“, sagt Calogero. Alle Weine werden spontan vergoren. „Wir machen jeweils drei bis fünf Pied de Cuves und entscheiden dann nach der Analyse im Labor, welchen wir verwenden.“

 

Der Rosé aus 100 Prozent Nero d’ Avola überzeugt mich gleich beim ersten Schluck. Enorm frisch und salzig, mit feinem Grip und erstaunlicher Länge. Meistens stört mich bei Roséweinen die mangelnde Persönlichkeit und die Austauschbarkeit. Dieser hier hat Charakter.

Salzig, frisch, charakterstark – nein, nicht Cecilia, sondern ihr Rosé aus Nero d’ Avola.

Aus der autochthonen Sorte Grillo entsteht in Kombination mit Sauvignon Blanc ein aromatischer Weißwein, der teils in Tonneaux ausgebaut wird. Das Holz ist beim 2022er für meinen Geschmack ein bisschen zu dominant und macht den Wein im Abgang etwas breit. Auch der Rotwein aus Nero d’ Avola und Syrah ist mir noch zu austauschbar, zu wenig eigenständig. Doch Cecilia und Calogero sind für konstruktive Kritik offen, sie wissen selbst, dass bei den Weinen noch Luft nach oben ist.

 

„Die 2023er-Weine markieren einen Einschnitt. Wir wissen nun genau, was wir wollen und wohin die Reise gehen soll. Die ersten Jahre haben wir uns noch beeinflussen lassen, aber jetzt setzen wir zu 100 Prozent auf Frische, Eleganz und Trinkigkeit“, sagt Cecilia. So ist für die kommenden Jahrgänge weniger Holzeinsatz geplant, um den Weinen „mehr Transparenz und Terroir-Ausdruck“ zu verleihen. Und tatsächlich ist die Fassprobe des weißen 2023ers, den Calogero aus dem Stahltank holt, mehr als vielsprechend.

 

„Alle reden immer von Langlebigkeit, aber unser Ziel sind Weine, die Spaß machen, ohne banal zu sein. Natürlich ist das Reifepotenzial wichtig, aber es ist nicht das einzige Qualitätsmerkmal. Unsere Weine sollen schnell zugänglich sein und trotzdem Terroir-Charakter haben“, erklärt Calogero.

 

 

400 Jahre unberührt – jetzt erwacht dieser Boden mit Respekt und Sorgfalt zu neuem Leben. Und mit 50 cm Humusschicht ist er besser gepolstert als so mancher Bürostuhl.

Landwirtschaftlicher Organismus

Doch Wein macht nur einen Teil des großen Ganzen aus. Cecilia spricht von Serra Ferdinandea als einem ganzheitlichen landwirtschaftlichen Organismus. Mit den fünf Kühen, 50 Bienenvölkern und demnächst auch Hühnern ist das Projekt eine Rückkehr zum Prinzip der Fattoria, des verschiedene Produkte in handwerklicher Qualität erzeugenden Bauernhofs.

 

„Wir wollen zeigen, dass Landwirtschaft Teil unseres Lebens ist, nicht nur ein Beruf. Unsere Tiere und all unsere Kulturen stehen in enger Verbindung zueinander und unterstützen sich gegenseitig. Dadurch kann sich das ganze System mit dem von der Natur vorgegebenem Rhythmus regenerieren.“

 

Cecilia hat sich der Biodynamie zunächst schrittweise genähert. Aber Cecilia wäre nicht Cecilia, wenn sie eine Sache nur halbherzig machen würde. So folgte im Anschluss eine umfangreiche Ausbildung zum Thema. Für sie war von Anfang klar, dass Steiners Lehren keine starren Dogmen sind, sondern auf den jeweiligen Ort angepasst werden müssen. Beraten wird der Betrieb übrigens von Adriano Zago, einem der führenden Agronomen für Biodynamie in Italien.

 

Kichererbsen aus der alten Sorte „Sultano“ – für Selbstversorgung mit einer Extraportion Protein (und Wortspiel-Potential).

Neben den Reben stehen Felder mit der alten sizilianischen Weizenart Perciasacchi. Aufgrund ihres niedrigen Glutengehalts sind das Mehl, der Grieß und die daraus hergestellte Pasta auch für Menschen mit Glutensensitivität geeignet. Auf 1,5 Hektar werden auch Kichererbsen der alten Sorte Sultano angebaut.

 

„Wir sind vom Prinzip der Selbstversorgung ausgegangen. Wir bauen ein Kohlenhydrat an, nämlich Weizen und Kichererbsen als Proteinquelle. Dazu kommen Trauben zur Weinproduktion und Feigen. Unsere Bienen produzieren Honig. Wichtig für uns sind zudem die Brachflächen. Denn solche nicht-produktiven Flächen, die ein oder mehrere Jahre aus der Bewirtschaftung genommen werden, sind sehr wichtig für die biologische Vielfalt.“

 

 

Ein Sattel und eine versunkene Insel

Auf unserer Wanderung kommen wir auch an einem kleinen Podest vorbei, einer Art Aussichtsplattform mit einem wunderbaren Rundumblick auf Weinberge, Weizenfelder und das Meer in der Ferne. „Dort liegt Sciacca“, sagt Cecilia und zeigt in Richtung Meer. „Und dort liegt auch die mysteriöse Insel, die unserem Weingut seinen Namen gibt.“

 

Abenteuer auf dem Etikett und im Glas. Wer braucht hier noch eine Schatzkarte?

Ich frage Cecilia, was der Name bedeutet. „Er bezieht sich zum einen auf die sattelförmige Gestalt des Hügels (Serra bedeutet auf sizilianisch Sattel, Anmerk. d. Red.), auf dessen höchsten Punkt wir gerade stehen. Zum anderen nimmt er Bezug auf die versunkene Insel Ferdinandea, die vor fast 200 Jahren plötzlich vor der Küstenstadt Sciacca auftauchte: ein bis heute faszinierendes geologisches Relikt.“

 

Dabei ist die Geschichte der Insel bemerkenswert kurz. Sie begann im Frühsommer des Jahres 1831. Nach einer Serie von vulkanischen Eruptionen in der Tiefe des Mittelmeers erhob sich unerwartet eine neue Insel aus dem Wasser. Innerhalb weniger Wochen erreichte sie eine Höhe von etwa 60 Metern und eine Fläche von vier Quadratkilometern.

 

Ihr Erscheinen sorgte für internationales Aufsehen. Die strategische Lage im Mittelmeer machte die Insel zu einem begehrten Objekt. Großbritannien, Frankreich und das Königreich beider Sizilien beanspruchten sie für sich. Die Briten hissten auf der Insel sogar ihre Flagge und tauften sie „Graham Island“, während die Franzosen sie „Île Julia“ nannten, da sie im Juli aufgetaucht war. Die Sizilianer hingegen bestanden darauf, die Insel Ferdinandea zu nennen, in Anlehnung an König Ferdinand II. von Neapel.

 

Doch der Streit währte nicht lange. Anfang Dezember 1831 war von der Insel keine Spur mehr zu sehen. Von Wind und Wellen verschluckt. Aufgetaucht ist sie danach nie wieder, doch so manch einer glaubt immer noch, dass sie sich eines Tages wieder aus den Fluten erhebt. Schließlich liegt sie nur sieben Meter unter dem Meeresspiegel.

 

 

Utopia wanted

In Zeiten, in denen unser Alltag zunehmend von Zukunftsängsten und Unsicherheit geprägt ist, brauchen wir ab und zu einen Ort der Utopie, der uns Kraft gibt und an den wir uns gedanklich zurückziehen können. Meine Tage auf Serra Ferdinandea liegen nun schon einige Monate zurück. Und doch geben sie mir immer noch Zuversicht. Warum? Weil Utopien lebendige Leuchttürme der Inspiration sind, die uns daran erinnern, dass positive Veränderungen möglich sind. Sie müssen kein unerreichbares Ideal sein, sondern etwas, das wir täglich gestalten können. Serra Ferdinandea ist Utopie und Realität gleichermaßen und zeigt, wie heilsam und wohltuend die Natur ist, wenn wir im Einklang mit ihr leben.

 

 

Die Weine von Serra Ferdinandea sind bei www.garibaldi.de erhältlich.