Ihr Land hat eine sehr bewegte Geschichte zwischen Besatzung und Freiheitskämpfen hinter sich. Als die Sowjetunion zusammenbrach, waren Sie noch Kinder. Wie haben Sie die Jahre des Umbruchs, der Bürgerkriege und der Unabhängigkeit Ihres Landes erlebt?
Nino: Ich war erst 6 Jahre alt als die Unruhen begannen und mir war natürlich nicht klar, was da alles passiert. Plötzlich waren alle in Sorge und angespannt, aber meinen Eltern ist es gut gelungen, mich davor zu schützen. Ich begreife das erst richtig, seit ich selbst Mutter bin. Kinder sind ja extrem anpassungsfähig, irgendwann war es für mich normal, Kerosin oder Holz zum Heizen mit in die Schule zu nehmen oder endlos lange in der Brotschlange zu stehen. Es war aber auch eine Zeit der Solidarität, eine Zeit des Zusammenhalts.
Giorgi: Die Jahre nach 1989 waren sehr chaotisch. Oft wusste man gar nicht, wer eigentlich gegen wen kämpft. Viele waren bewaffnet, auch Jugendliche in meinem Alter. Es passierte auch, dass Leute, die man gestern noch in der Schule gesehen hatte, plötzlich weg blieben – später hörte man dann, dass sie getötet worden waren. Ich erinnere mich, dass ich mit meinen Freunden Fußball gespielt habe, und zwei Straßen weiter wurde geschossen. Es klingt absurd, aber für uns wurde das bald normal. Wir haben einfach weiter gelebt und nicht aufgehört, glücklich zu sein.
Sie haben Ihre Heimat als junge Erwachsene verlassen. Warum sind Sie gegangen und warum gerade nach Deutschland?
Nino: Ich war mit meinem Studium in Tbilissi unzufrieden. Es war eine sehr stagnierende Zeit unter Schewardnadse, kulturell war wenig los. Ich habe damals Filmregie studiert und nebenbei Theater gemacht, und mir ist bewusst geworden, dass ich dort nicht weiterkomme. Deutschland war naheliegend, da meine Mutter schon seit einigen Jahren dort lebte und ich die Sprache konnte. Ich hab’ mich an verschiedenen Unis beworben und in Hamburg hat es dann geklappt.
Giorgi: Das war Zufall, ich hatte gar nicht vor, aus Tbilissi wegzugehen. Ich hatte eine Studentin getroffen, die mir so viel über München erzählte, dass ich Lust bekam, die Stadt kennenzulernen. Die einzige Möglichkeit, ein Visum fürs Ausland zu bekommen war, wenn man dort studieren wollte.
Ich flog also im Mai 1999 für zehn Tage nach München, um mir die Stadt anzuschauen. Und habe nebenbei an den Aufnahmeprüfungen fürs Konservatorium teilgenommen, damit ich nicht als Tourist aufflog. Einige Monate später bekam ich Bescheid, dass ich bestanden hatte. Seitdem bin ich hier.
Hätten Sie sich damals träumen lassen, dass Sie eine berühmte Schriftstellerin werden, beziehungsweise, dass Sie mal in der ehrwürdigen Carnegie Hall in New York spielen würden?
Nino: (lacht) Nein. Also ich hab’ schon seit meiner frühen Jugend geschrieben, das gehörte für mich einfach dazu, war ein Teil von mir. Bücher spielten bei uns zuhause immer eine große Rolle. Aber ich hab’ mich sehr lange nicht getraut, auszusprechen, dass ich Schriftstellerin sein möchte.
Giorgi: Nein, überhaupt nicht. Ich habe zwar neben meinem Telekommunikationsstudium auch im Sinfonieorchester in Tbilissi gespielt, aber ich habe mich erst sehr spät entschieden, Berufsmusiker zu werden. Da stand ich schon ein paar Jahre auf der Bühne. Ich war lange Zeit einfach nur ein sehr guter Hobbymusiker.
Was vermissen Sie an Ihrer Heimat am meisten?
Nino: Eine Form von Selbstverständlichkeit im Umgang mit bestimmten Dingen. Einfach so zu sein wie man ist, ohne sich ständig in Frage stellen zu müssen. Natürlich fehlen mir auch Menschen, die mir etwas bedeuten und die Herzlichkeit, die Wärme im zwischenmenschlichen Miteinander. Der Umgang mit Emotionen in Deutschland wird mir immer fremder. Je älter ich werde, desto georgischer werde ich.
Giorgi: Vor allem die Zeit, die ich dort verpasst habe, das alltägliche Leben. Ich vermisse meine Freunde. Wenn ich nach Hause fahre, ist es fast als würde ich mit einer Zeitmaschine reisen. Mein Zimmer ist noch genauso wie ich es 1999 verlassen habe.
Seit Sie aus Georgien weggezogen sind, hat sich dort viel verändert. Können Sie sich vorstellen, wieder dort zu leben?
Nino: Doch schon. Allerdings kann ich mir auch nicht vorstellen, hier alle Zelte abzubrechen. Aber ich denke oft darüber nach, wie ich es bewerkstelligen könnte, mehr Zeit in Georgien zu verbringen, auch für meine Kinder, damit sie die Sprache richtig lernen. Ich möchte dort keinen Urlaub machen, sondern den Alltag leben.
Giorgi: Vielleicht irgendwann mal, aber nicht jetzt, mittlerweile ist München mein Zuhause. Allerdings fahre ich möglichst oft nach Georgien. Früher war das kompliziert, heute kann man schnell mal den Flieger nehmen. Das macht die Distanz erträglicher.
Wie sehr beeinflusst Ihre Heimat Ihr künstlerisches Schaffen?
Nino: In meinen Werken spiegelt sich immer dieses 'zwischen zwei Welten sein', wider. Nicht alle meine Bücher spielen in Georgien, aber mein Ursprung beeinflusst mich natürlich sehr.
Giorgi: Meine Wurzeln begleiten mich bei allem, was ich tue. Es ist eine gewisse Melancholie, die mich immer verfolgt.
Welche Eigenschaft würden Sie an sich selbst als typisch georgisch bezeichnen?
Nino: Meine Impulsivität und eine Tendenz zur Unpünktlichkeit. Aber generell habe ich einfach einen anderen Umgang mit Emotionen und Berührungen als die meisten Deutschen.
Giorgi: Mein Temperament, ich bin impulsiv, laut und gastfreundlich.
Die Georgier sind für ihre Lebenslust, ihre Trinkfreude und die ausgelassenen Feiern, die sogenannten Supra, bekannt. Sie werden auch als die Italiener des Ostens bezeichnet. Erkennen Sie sich in diesem Vergleich wieder? Sind Sie ein Genussmensch?
Nino: Ja, in der Hinsicht bin ich voll das Klischee. Ich trinke gerne Wein, nehme gerne an Supras teil, das einzige, was ich nicht so gerne mache, ist singen. Georgien ist sehr mediterran und hat viel mit Italien gemeinsam, viel mehr als mit anderen osteuropäischen Ländern.
Giorgi: Absolut. Bei meinen Eltern zuhause waren früher fast jedes Wochenende Freunde mit ihren Kindern zu Besuch. Wir saßen um den Tisch mit viel Essen, Wein, Musik und guter Laune. Es wurde immer viel gelacht, es war eine glückliche Zeit. Wenn man so aufwächst, ist es fast unmöglich, kein Genussmensch zu sein.
Was ist Ihre schönste kulinarische Kindheitserinnerung?
Nino: Die nächtlichen Festvorbereitungen, vor Silvester oder Ostern, wenn die Frauen der Familie zusammen in der Küche herumwuselten. Die ganze Küche quoll über von frischen Kräutern, Obst und Gemüse. Ich erinnere mich an grelle Farben, alles roch so betörend. Es hatte etwas verheißungsvolles, weil ich wusste: am nächsten Tag gibt es all diese Köstlichkeiten.
Giorgi: Ich habe es geliebt, mit meinen Eltern ins berühmte Café Lagizes auf dem Rustaveli-Boulevard, der Prachtstraße von Tbilissi zu gehen. Da gab's Khatchapuri und Estragon-Limonade, das war für mich das Größte.
Wenn Sie sich von Ihrer deda (georgisch: Mutter) bekochen lassen, was wünschen Sie sich?
Nino: Ach, ganz unterschiedlich. Erst neulich habe ich mir von ihr ein Gericht gewünscht, das ich seit gefühlten 1000 Jahren nicht mehr gegessen hatte, Shkmeruli, das ist Hühnchen in einer Knoblauchsauce. Schmeckt wunderbar, allerdings kann man sich danach keinem mehr nähern.
Giorgi: Ich mag unheimlich gern Ajabsandali, das ist ein Aubergineneintopf mit Spitzpaprika, Koriander, Basilikum und Petersilie oder das typisch georgische Fladenbrot mit Käse und Ei, das Khatchapuri.
Kochen Sie auch selbst? Was darf für Sie bei einem typisch georgischen Essen nicht fehlen?
Nino: Ja, natürlich. Das schöne an unserer Küche ist die große Vielfalt. Obwohl die Georgier viel Fleisch essen, gibt es sehr unzählige, köstliche vegetarische Alternativen. Ich liebe einen ganz einfachen georgischen Sommersalat, den ich in Deutschland aber leider nie so hinkriege wie zuhause, weil die Tomaten hier nicht so schmecken und ich die richtigen Kräuter nicht finde. Kräuter sind für mich Sinnbild der georgischen Küche. Dazu ein Stück warmes Brot und Sulguni, das ist ein Käse, mit mildem, sahnigem Geschmack. Mehr brauch’ ich nicht!
Giorgi: In letzter Zeit koche ich viel und gerne. Aber die georgische Küche ist sehr aufwendig. Ein typisch georgisches Essen lebt von den vielen vegetarischen Vorspeisen, den Phakli, die man aus verschiedenen Gemüsearten zubereitet: Spinat, Lauch, Rote Bete und anderen. Außerdem braucht es Käsetaler, Shotis Puri (georgisches Brot), Mzvadi (Fleischspieße), die scharf-saure Pflaumensauce Tkemali und Khatchapuri. Und natürlich viel Wein (lacht).
Sie leben in Berlin bzw. in München. Können Sie in Ihrer Stadt ein gutes georgisches Restaurant empfehlen?
Nino: Ja, das Schwiliko in Kreuzberg und das Tiflis in Prenzlauer Berg. Aber der „Blaue Fuchs“ am Kollwitzplatz ist sehr gut und hat auch eine tolle Weinkarte.
Giorgi: Ich muss gestehen, dass ich in München selten georgisch essen gehe. Leider musste das Restaurant Sabatono aufgrund der Corona-Krise schließen. Georgisches Street Food, also Khatchapuri auf die Hand, gibt es im Royal Healthy Slices am Hohenzollernplatz in Schwabing.
Tiflis hat mittlerweile eine sehr lebendige Kunst- und Kulturszene, manche vergleichen die Stadt mit dem Berlin der 90er-Jahre. Ist es heute noch genauso schwierig, sich dort als Künstler:in zu verwirklichen?
Nino: Für Kunstschaffende ist es immer noch ein harter Kampf und ohne Finanzierung aus dem Ausland kaum möglich. Viele junge Filmemacher, Maler oder Schauspieler sind auf solche Unterstützung angewiesen. Aber die neue Generation ist erfinderischer, das waren wir nicht so. Wirtschaftlich ist es sehr schwer, die meisten haben mehrere Jobs. In Deutschland ist es auch nicht groß anders, aber in Georgien bekommen Künstler*innen selbst jetzt in der Krise null Hilfen.
Giorgi: Ich verfolge hauptsächlich die Musikszene. Es gibt schon ein paar Undergroundclubs, die an das Berlin der 90er erinnern. Elektro-Musik ist sehr beliebt, auch viele DJs aus Deutschland legen dort auf. Mittlerweile finden sogar richtig gute Jazz- und Klassikfestivals statt, nicht nur in Tbilissi, auch in anderen Städten in Georgien. Aber Musiker:innen können trotzdem nur selten von ihrem Beruf leben.
Haben Sie einen Lieblingsort in Tiflis?
Nino: Ich bin wahnsinnig gerne in den alten Vierteln Wera und Sololaki unterwegs und schlendere da einfach durch die Gassen. Dabei entdecke ich immer wieder Neues.
Giorgi: Ich fahre gerne mit der Seilbahn hoch auf den Mtazminda, den Heiligen Berg. Das ist zwar mittlerweile etwas touristisch, aber die Aussicht von dort oben ist wirklich wunderbar.
Wo gehen Sie in Tiflis aus, wenn Sie sich mit Freunden treffen? Haben Sie ein Stammlokal oder eine Lieblingsbar?
Nino: Wenn ich gut essen will, gehe ich in ganz einfache Lokale, am Stadtrand oder am Flussufer. Früher bin ich immer gerne ins Puppenspielercafé von Rezo Gabriadze gegangen, aber es ist sehr touristisch geworden. Das Restaurant im Stamba-Hotel hat mir letztens sehr gut gefallen. Gehobene Küche gibt es im Schriftstellerhaus, das Restaurant liegt im Garten einer wunderschönen Jugendstilvilla.
Giorgi: Tbilissi ist eine sehr dynamische Stadt. Ich entdecke bei jedem Besuch neue Restaurants und Lokale. Gut, dass ich dort so viele Freunde habe, die mich ausführen. Zuletzt war ich im Café Stamba und den Restaurants Fabrika, Rooms und Lolita.