In meinen Nachrichtenanfragen auf Instagram tummelt sich Buchstabensuppe aller Couleur. Von seltsamen Kooperationsanfragen, die ich gekünstelt ablehne über potenzielle Aufträge als Freelancer bis hin zu restsüßer Fanpost, Kauderwelsch von Fake-Profilen und Weinfragen von Fremden, die ich meist mit Sprachnachrichten beantworte.
Teilweise finden sich auch mysteriöse Einladungen zu luxuriösen Tastings in meinem Postfach. Von Menschen, die meine Texte lieben, über gut bestückte Weinkeller verfügen und ebenjene gemeinsam mit mir um ein paar Schmuckstücke erleichtern wollen. So auch neulich. In neun von zehn Fällen lasse ich Offerten dieser Art ins Leere laufen. Nicht meine Welt.
Flex? Nein, danke!
Ich liebe es, große Etiketten zu entmystifizieren, keine Frage, doch nicht mit fremden Menschen in ungewohnter Umgebung. Zu hoch die Gefahr, in eine Runde alter weißer Männer mit Köpfen rot wie Ochsenherztomaten zu schlittern, die Wein nur deshalb trinken, um die Geheimratsecken in Form des Sylt-Aufklebers zu camouflieren, der auf dem Heck der geleasten Schwanzverlängerung namens Panamera klebt.
Auf Flex dieser Art strulle ich. Bevor ich mir Instagram heruntergeladen habe, bin ich sieben Jahre ohne Smartphone durch die Welt getigert. Dass ich damals bereits den ein oder anderen großen Wein getrunken habe, weiß nur der Wind. Sieben Jahre ohne digitales Echo, ohne Likes, ohne Kommentare. Sieben Jahre nichts.
Just Me, Myself and I. Milton, Sidney und Curtis.
Statussymbole spielen in meinem Leben eine untergeordnete Rolle.
Real talk!
Meine Mutter musste damals den Alimenten hinterherrennen, SchülerVZ, MSN und LimeWire gab es nur wochenends bei meinem Nachbarn und das Internetcafé am Schillerplatz in Stuttgart-Vaihingen war mein Hovercraft, um mich in Richtung der Highlights der NBA All-Star Games 2003 zu beamen. Damals, als das Steak & Cheese bei Subway noch nach Steak & Cheese geschmeckt hat. Damals, als Jason Richardson, Desmond Mason und Amare Stoudemire einen legendären Dunk Contest auf die Beine gestellt haben. Damals, 2003, als ich 11 Jahre alt war, das Leben noch einfach und die Zukunft nicht griffbereit auf dem Nachttisch lag.
„Lieber Trollinger mit den Homies als Conti mit Wichsern."
Auch 20 Jahre später bin ich noch immer ein normaler Typ und alles andere als opportun. Ich stamme aus einfachen Verhältnissen und trinke lieber Trollinger mit den Homies als Conti mit Wichsern. Bei Mr. X, dem großzügigen Menschen, der mich auf ein mysteriöses Tasting einladen möchte, ist das etwas anders und genau deshalb interessiert es mich. Es gibt Clos du Mesnil 2008 von Krug. Ein Phantom von Schaumwein. Online kostet der göttliche Sprudel absurde 2.499 Euro. Das sind zwei Monatsmieten in Halbhöhenlage. Eine Chance, die wie eine Sternschnuppe über die Windschutzscheibe eines jungen Weintrinkers huscht.
Versuchung Wein
Außerdem wird es einen Lafite Rothschild von 1995 aus der Magnum und einen Romanée-Saint-Vivant von der Domaine de la Romanée-Conti geben, dem vermutlich renommiertesten Weingut der Welt. Zusätzlich stünde ein eventueller Auftrag als Freelancer in Aussicht. Ich befinde mich im ersten Jahr meiner Gründung und die Kombination aus altem Wein und neuem Business macht die Geschichte maximal spannend. Garniert wird die hedonistische Einladung mit einer Handynummer. Ich solle mich melden. Mr. X würde mich gerne besser kennenlernen, außerdem kommen zwei Personen, die ich über achtunddreißig Ecken kenne: Weinhändler Daniel Nussbaum und Fotograf Sascha Radke, der hin und wieder den Podcast Blindflug moderiert. Zwei weitere Gründe, die dafür sprechen, dem immersiven Göttersuff beizuwohnen.
Ich sage dennoch ab.
Nicht aus Angst vor einer Horde scheintoter Silberrücken, die zum Kekswichsen im Elfenbeinturm laden, ganz im Gegenteil: Ich bekomme Besuch. Ein Mädel von der Mosel, das ich kürzlich über Instagram kennengelernt habe, kommt voraussichtlich an genau diesem Wochenende zum ersten Mal bei mir in Stuttgart vorbei. Ein Girl so süß, dass jede Spätlese von Egon Müller dagegen wie knochentrockener Riesling wirkt. Scheiß auf das Tasting, ich will sie schmecken. Rein charakterlich kann ich sie zwar noch nicht ganz einschätzen, logisch, wir kennen uns nur über diese absurde App, die mich neuerdings anscheinend zum Diskussionsgegenstand macht, doch das Interesse ist geweckt.
Glasfasergefühle
Wir haben einen ähnlichen Humor und gemeinsame Topics. Unser Musikgeschmack ist nahezu identisch, sie liebt meine Texte, feiert meine Art, irgendwie viben wir. Außerdem haben ihre Eltern ein kleines Weingut – Jackpot. Passt wie Arsch auf Eimer. Auch wenn das Tasting überirdisch werden könnte, ist die Neugierde, meinen mysteriösen Cyber-Flirt endlich analog kennenzulernen, größer als die Lust auf DRC, Keller und Leflaive. Von den Flaschen werden jeweils mehrere Tausend produziert, diese Frau gibt es nur einmal. Wein ist käuflich, Feelings unbezahlbar.
Die gemeinsame Frequenz auf Glasfaserbasis über hunderte Kilometer Luftlinie zuhalten, grenzt zwar an Raketenwissenschaft, doch drauf geschissen. Einen Versuch ist es wert. Die Hoffnung stirbt sowieso zuletzt und wenn ich sie Mund zu Mund beatmen muss. Außerdem bin ich, wie bereits erwähnt, kein opportunes Arschloch: Absage ist Absage und Treffen ist Treffen. Ob mit Schwippschwager Stankic, einem Kindheitsfreund aus Stuttgart-Vaihingen oder Mosel_Girl_98. First come, first serve.
„Die Neugierde, meinen mysteriösen Cyber-Flirt endlich analog kennenzulernen, ist größer als die Lust auf DRC,Keller und Leflaive. Von den Flaschen werden jeweils mehrere Tausend produziert, diese Frau gibt es nur einmal. Wein ist käuflich, Feelings unbezahlbar.“
Tage vor dem Tasting
Es ist Donnerstag, der 12. September. Noch achtundvierzig Stunden bis zum Tasting. Meine Absage gilt nach wie vor, doch ob das restsüße Girl von der Mosel noch vorbeischaut, steht mittlerweile auf der Kippe. Der Kontakt ist zwar noch da, doch deutlich abgeebbt. Vorbei die Nachrichtenflut. Vorbei die süßen Selfies, die auf dem Refraktometer den nächsten Highscore jagen. Vorbei das Sexting auf WhatsApp mit gemeinsamem Höhepunkt nachts um 1:52 Uhr. Die Komplimente. Das verlegene Grinsen. Der Schwarm aus Schmetterlingen, die Feelings in der Magengegend. Wie vom Erdboden verschluckt. Irgendwie schade, doch es ist wie es ist. Life happens. Treffen würde ich sie nach wie vor: meine Tasting-Absage steht. Vielleicht bringt uns ein gemeinsames Wochenende voran, Schwung in die Kiste, neue Erkenntnisse, Klarheit wie Sedimentation, positiv wie negativ.
Um 16:38 Uhr geht eine Story von Daniel Nussbaum auf Instagram online: das Line-up von Samstag. Alle Weine. Untereinander aufgelistet. Dom Pérignon Vintage 2008 und Krug Grande Cuvée 164ème Édition. Beide aus der Magnum. G-Max von 2009. Clos du Mesnil 2008. Anschließend gibt es fünfzehn Jahre gereiften Corton-Charlemagne von Marc Colin. Meursault Premier Cru von Leflaive. Romanée-Conti aus dem Jahr 2001. Ich wiederhole: Romanée-Conti aus dem Jahr 2001. Dann wären da noch Lafite und Mouton Rothschild. Jeweils älter als fünfundzwanzig Jahre. Davon einer im Großformat. Zum Abschluss gibt es einen Süßwein vom legendären Château d’Yquem aus dem Jahr 2003 und drei weitere Weine, die der euphemistischen Tiefstapelei frönend als „Überraschungen“ tituliert werden. Jeder Mensch mit drei Gramm Grips im Gugelhupf weiß, dass sich die flüssigen Ü-Eier bei einem derartigen Line-up nicht als Doppio Passo, Cà dei Frati und Kessler entpuppen werden.
Jetzt, wo ich die illustren Namen der Weingüter so lese, geht mir doch leicht die Pumpe. FOMO ist mir nach sieben Jahren ohne Smartphone zwar fremd, doch bei solch einem Line-up ist ein klitzekleiner Lusttropfen in der Boxershorts von UNIQLO mehr als legitim. Vielleicht sollte ich doch zusagen. So erleuchtend kann das Wochenende mit diesem Girl nicht sein. Bei aller Liebe. Henkerstropfen auf Henkerstropfen auf Henkerstropfen. Waschechter Oligarchensuff. Sicher das größte Line-up meines noch jungen Lebens, ein flüssiger Kleinwagen, auf dem Sekundärmarkt easy bis zu 20.000 Euro wert. Außerdem weiß ich noch immer nicht, ob mein digitaler Flirt safe kommt. Die Kommunikation lässt zu wünschen übrig. Ich fange an, mir präventiv einzureden, dass die Geschichte sowieso keine Zukunft hat. Eine emotionale Schutzmaßnahme meinerseits, künstlich eingeleitet wie Wehen, doch nicht völlig aus der Luft gegriffen.
Zack, peng, boom!
Die drei Stunden Entfernung nerven krass. Hinzu kommt ein Kommunikationslevel, das sich momentan leider auf Grundschulniveau befindet. Dann wären da noch Zukunftspläne, die diametral zu meinen verlaufen und einige rote Flaggen, die aus der Ferne betrachtet auf Halbmast wehen. Das wird nichts. Ich fühle es. Falls es so etwas wie männliche Intuition geben sollte, gehe ich stark davon aus, dass sie noch absagt. Eventuell sogar am selben Tag. Spontan. Am Samstagmorgen. Aus dem Nichts. Zack, peng, boom! Warum auch nicht? Diese schulterzuckende Schleudersitz-Energy gibt sie mir irgendwie. Eine Art bittersüße Unberechenbarkeit, die das Ganze zwar minimal spannend, doch auch maximal anstrengend macht. Ich schreibe Mr. X vorsichtig auf WhatsApp, dass ich das Line-up eben auf Instagram gesehen habe und eventuell doch noch kommen würde. Falls möglich.
Er ist online. Die Nachricht geht durch. Zwei blaue Haken.
„FOMO ist mir nach sieben Jahren ohne Smartphone zwar fremd, doch bei solch einem Line-up ist ein klitzekleiner Lusttropfen in der Boxershorts von UNIQLO mehr als legitim.“
Sekunden später ein Anruf: Mr. X am Apparat. Als hätte er darauf gewartet, dass ich nachgebe. Die sympathische Stimme am anderen Ende der Leitung sagt, jemand wäre abgesprungen. Ich könnte noch kommen. Ich erzähle von meinem eventuellen Besuch, der diesbezüglichen Überschneidung, äußere meine Bedenken. Sekunden vergehen. Ein gelassenes Lachen sickert durch den Hörer. Alles easy. Eine Begleitung wäre vollkommen in Ordnung. Nur für das Essen, gekocht von einem Privatkoch, müsste meine Plus-Eins aufkommen. 150 Steine, that‘s it. Das Menü klingt lukullisch.
Es gibt Thunfischbauch, zweierlei Austern, rote Tiefseegarnelen aus Portugal, Kaviar und Rinderfilet. Ich wäre zwar auch bei einem saftigen Dönerteller oder einer Pizza Salami dabei, doch werde schnell mit dem Gedanken warm, Samstag wie ein Halbgott in Nürtingen zu leben.
Hyped as f*ck
Die Weine gehen aufs Haus. Meine Begleitung würde zwar keinen Schluck der 0,75-Liter-Flaschen bekommen, die sind ausschließlich für uns Freaks, allerdings hätten wir genug Großkaliber am Start. Nice. Klingt gut. Nein, was rede ich: klingt perfekt. Ich würde mich melden, sobald ich das Go von meiner Begleitung bekomme, doch sage schon mal für mich zu. Vorfreudige Abschiedsfloskeln wechseln die Besitzer, obwohl ich noch immer nicht genau weiß, wer Mr. X genau ist, geschweige denn wie dieser überhaupt aussieht, da er auf Instagram kein Bild von sich hat.
Euphorische Sprachnachricht an Mosel_Girl_98. Unser Samstagabendprogramm steht und es ist spektakulär. Wir könnten gemeinsam auf dieses absurde Tasting gehen, das ich ursprünglich für sie abgesagt hatte. Ich freue mich sehr, bin hyped as fuck. Mit einer bildhübschen Frau einen Kleinwagen schlürfen. Im Kreise von vermutlich sympathischen Weinliebhabern. Ein eventueller Auftrag. Dazu ein grandioses Menü in gemütlicher Atmosphäre. Danach in die City düsen, vielleicht an einem Stromkasten sturzbesoffen rumknutschen. Kurz darauf ein Bierchen zischen, vielleicht auch einen Negroni, im Anschluss zu mir und noch mehr knutschen und noch mehr knutschen und noch mehr knutschen. Geht’s besser? Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Sie müsste mir nur das finale Jawort geben.
Wie so oft in letzter Zeit: 164 Stunden keine Antwort. Kommunikationsdelirium, Warteschleifenlethargie, Überforderung mit dem neuen Job bei Weingut XY. Vielleicht auch ernsthaftes Desinteresse an meiner Person, das leider immer wieder von homöopathisch dosierten süßen Nachrichten kannibalisiert wird, die mir genau dann Hoffnung machen, wenn ich kurz davor bin, den Schlussstrich zu ziehen. Ein Minimum an Kommunikation wäre schon schön. Wenigstens ein Ja oder ein Nein. Ansage. Absage. Klartext, was ich brauche, ist Klartext. Stattdessen kommunikatives Kauderwelsch, nebulös wie die terrassierten Steillagen der Mosel im Morgengrauen.
Um 21 Uhr dann wieder WhatsApp-Nachrichten, die nichtssagend um die Ecke schlendern wie Stummfilmschauspieler. Ein Strauß voller Stilblüten. Kein Ja. Kein Nein. Nichts. Mittlerweile bin ich leicht genervt. Ich lege das Handy weg, was bei meiner Screentime momentan selten passiert, höre Musik und schreibe eine Caption gegen die lähmende Ungewissheit. Gegen 22 Uhr eine Sprachnachricht. Erste Zweifel werden verbalisiert. Endlich. Zumindest halbwegs.
Lähmende Ungewissheit
Ein vierminütiges Jein, das durch den Lautsprecher meines iPhones wabert. Ich höre die Sprachnachricht auf doppelter Geschwindigkeit, spule zwischendrin etwas vor und frage straight, ob wir nicht lieber kurz telefonieren sollen. Das würde vieles einfacher machen.
Direkter. Besser. Einfacher eben. Nach wenigen Minuten und etwas Blabla ist klar, dass sie nicht nach Stuttgart kommen wird. Never. Ich muss es ihr zwar aus der Nase ziehen, doch als jemand, der fürs Leben gerne popelt, nichts leichter als das. Uff. Nun gut. Schade. Sehr sogar. Ich hatte es zwar irgendwie im Urin wie kürzlich acht Flaschen Ganevat und die plötzliche Klarheit besänftigt mich, doch bedauernswert ist es allemal. Besonders in Anbetracht der Tatsache, dass es zwei Tage zuvor noch kabinette Nachrichten gab. Nicht auf dem Niveau einer Trockenbeerenauslese, doch durchaus liebliche Zeilen. Komplimente. Süße Emojis. Dirty Talk. Sprachis. Aber lieber kurzfristige Absage als langfristiger Herzschmerz. Das Universum weiß schon, was es tut.
Die nächsten Stunden verbringe ich mit Videos von Rick Rubin und Anthony Bourdain, einem Word-Dokument, das mir zuhört und einer Spotify-Playlist, der ich zuhöre. Stoßlüften für die Seele. Mehr als angebracht in dieser Situation. Die Absage geht nicht spurlos an mir vorbei. Als alter Romantiker ein Ding der Unmöglichkeit. Die Enttäuschung sitzt zwar nicht so tief, dass ich mit dem Arsch über dem Asphalt schleife, doch selbstverständlich ist es sad, wenn sich zwei Monate intensives Kommunizieren innerhalb weniger Minuten in Luft auflösen wie eine Flasche Chablis Mont de Milieu 2020 von Alice und Olivier de Moor.
Bye-bye, Baby!
Logisch. Wieder eine Seele, die über meine huscht, um sich in eine endlose Polonaise der menschlichen Bedeutungslosigkeit einzureihen. Wieder eine talking stage, die sich langsam zum Schweigegelübde entwickelt, während man die Buchstabensuppe unbewusst auslöffelt, um dann sprachlos vor einer leeren Schüssel zu sitzen. Wieder ein emotionaler Invest, der sich innerhalb von Sekunden zu Sternenstaub auflöst. Börsencrash, verzocktes Kapital, schwarzer Tag, rote Zahlen, doch ist jetzt so. Was bleibt einem auch anderes übrig, als die Wertpapiere durch den Aktenvernichter zu jagen und im Konfettiregen zu tanzen? Bingo, nichts. Alors, on danse!
„Die Nachwehen meines süßen Mosel-Flirts fegen wie Heuballen aus Zuckerwatte über den Flur meiner Fontanelle. Dazu ein schnurrender Kater, der meinen Kopf in einen Kratzbaum verwandelt.“
Der Tag des Tastings
Ich wache mit Schädelweh auf und später als mir lieb ist. Meine Schläfen pochen wie Warnblinker, alles dreht sich um mich. Kopfkarussell. Zu lange mit Vince und Johannes unterwegs gewesen. Erst waren wir bei Bernd Kreis in der High Fidelity Bar, um eine Flasche Schampus zu trinken. Davor gab es urgutes Bier von der Brauerei Clemens Härle, danach grünen Chartreuse, den legendären Kräuterlikör der Kartäusermönche.
Kopfkarussell
Im Anschluss sind wir weitergezogen, um billiges Bier zu trinken. Aus Plastikbechern. Schal wie Herbst-Accessoires. Inklusive Stahltankaroma. In einer Spelunke, die easy als Zweigstelle von Askaban durchgehen könnte. Keine Ahnung, ob die Jungs wieder auf bolivianischem Nasen-Espresso durchgemacht haben, doch ich spüre die Nacht noch in den Knochen.
Es ist 12:54 Uhr. Ich muss um 17 Uhr irgendwo in Nürtingen sein, sprich spätestens um 16 Uhr los, wahrscheinlich etwas früher. Sicher ist sicher, denn Conti ist Conti. Das mittelgroße Städtchen liegt knapp dreißig Kilometer von Stuttgart entfernt. Keine Odyssee, doch etwas Planung kann nicht schaden. Bis dahin sollte ich den Haushalt schmeißen, mich aufmotzen, etwas schnabulieren und eine Caption kritzeln. That’s it. Ich entscheide mich für den MEX 12, der um 15:52 Uhr von Gleis 16 am Hauptbahnhof in Richtung Nürtingen fährt. Ankunft 16:24 Uhr. Bleibt eine halbe Stunde, um Richtung Walhalla zu walken. Passt.
Um 15:48 Uhr finde ich mich halbverschwitzt mit eingenässten Achseln und zerzauster Friese an Gleis 16. Ich bin durch den Wind und nervöser, als es mir lieb ist. Ursache unbekannt.
Die Nachwehen meines süßen Mosel-Flirts fegen wie Heuballen aus Zuckerwatte über den Flur meiner Fontanelle. Dazu ein schnurrender Kater, der meinen Kopf in einen Kratzbaum verwandelt und Menschen, viele Menschen, zu viele Menschen. Keine Lust auf Secondhand-Sauerstoff. Beinfreiheit und eine Armlänge Abstand wären auch schön. Stattdessen tektonische Plattenverschiebung. Menschgewordenes Formfleisch, das sich in den miefenden Wagon farciert. Kein guter Tag, um ein funktionierendes Geruchsorgan zu haben.
MEX 12? Full!
Schweiß, Stress und Schmerzen, die meine Schleimhäute massakrieren, ein Flakon auf Schienen. Was zur Hölle geht in Bad Cannstatt, Esslingen, Plochingen, Wendlingen am Neckar und Nürtingen, dass sich die halbe Stadt in diesem beschissenen Zug versammelt? Klar, es ist Samstagnachmittag, der Shoppingmarathon vorbei, raus aus Stuttgart, rein in die Doppelhaushälfte, doch selbst dafür ist die Bahn absurd voll.
Kendrick Lamar besänftigt mich derweil mit Flows und auch die Nervosität legt sich, sobald ich beginne, die Notizfunktion meines iPhones als Kloake für meinen geistigen Dünnschiss zu nutzen, während sich der Wagon langsam leert. Als ich um 16:24 Uhr ankomme, kaufe ich mir einen Ayran, rufe ein Taxi und lasse mich für einen Zehner zum Ziel beamen, das in einem ruhigen Wohngebiet liegt. Die Spannung steigt, dem Himmel so nah.
Das Tasting
Eine steinerne Treppe, die schier nicht enden will, führt mich zum Ziel, das hinter einem unscheinbaren Haus liegt. Als ich ankomme, fällt mir ein Stein schwer wie Sperrgepäck vom Herzen: kein schwanzvergleichender Schlaganfalltrupp, der kekswichsend im Elfenbeinturm lümmelt, sondern eine Gruppe sympathischer Typen. Mr. X, der sein Geld anscheinend mit verschiedenen Gastro-Projekten verdient und Weinliebhaber ist, begrüßt mich freundlich. Schnack links, Schnack rechts, gute Stimmung, alles easy.
Tasting in Traumkulisse
Und auch die Location ist ein Traum. Eine u-förmige Outdoorküche umarmt das Herzstück des Tastings: eine große Tafel, die von einer Pergola bedacht ist. Flankiert wird der architektonische Augenschmaus von einem Pool, der so aussieht, als wäre er mit Evian gefüllt. Auf dem Beckenrand zwei mit Weinen gefüllte Kühler: besonders die Krug Grande Cuvée 164ème Édition in der Magnum grinst mich an. Etwas Sprudel zum Start, vor allem mit dem Kneipen-Jetlag von letzter Nacht, das noch knietief in den Knochen sitzt wie’n Archäologe auf Ausgrabung, kommt wie gerufen. Ich bediene mich munter, schnacke mit Daniel, der fleißig damit beschäftigt ist, Bilder für Instagram zu knipsen und lasse mir das Happening auf der Zunge zergehen wie den Champagner selbst.
Ein genialer Schaumwein – ohne Wenn und Aber. Die Grande Cuvée liefert sowieso immer und bietet mit das beste Preis-Leistungs-Verhältnis bei Krug, sofern man in diesen Sphären noch von Preis und Leistung sprechen kann. Die 164ème Édition, die größtenteils auf dem legendären Jahrgang 2008 basiert, ist hier noch mal speziell hervorzuheben. Alchemistisch aus 127 Weinen komponiert, die wiederum aus 11 verschiedenen Jahrgängen stammen, das älteste Puzzleteil aus dem Jahr 1990. Die Cuvée setzt sich aus 48 % Pinot Noir, 35 % Chardonnay und 17 % Pinot Meunier zusammen. Das Ergebnis ist ein schizophrenes Spiel aus Frische und Komplexität. Traumstart. Durchatmen, ankommen, marianengrabentiefe Dankbarkeit, die meinen Körper flutet.
Der Jesuitengarten von Bürklin-Wolf aus dem Jahr 1997 hat seine besten Tage leider bereits hinter sich, was nicht an der Lagerfähigkeit des Tropfens liegt, sondern auf ein Korkproblem zurückzuführen ist. Schade um den Wein, doch Schwamm drüber. Die gute Stimmung macht das frühzeitige Ableben des Pfälzer Rieslings easy wett. Ich bin zwar mit Abstand der jüngste Gast, doch fühle mich mehr als wohl. Die Gruppe trifft sich in dieser Konstellation immer wieder – dieses Mal um Sascha und mich erweitert, da Mr. X gerne Blindflug hört und meine Texte mit großer Begeisterung liest.
Als nächstes parkt Winzer Adrian Beurer, der an diesem Abend den Schankwirt spielt, einen flüssigen Ferrari im Wert eines gebrauchten Twingos in meinem Glas. Einen G-Max von Klaus-Peter Keller aus dem Jahr 2009, der auf dem Sekundärmarkt mystische 1.500 Euro erzielt. Der teuerste trockene Riesling Deutschlands. Ein Phantom. Wunderschöne Nase. Etwas, das man niemals über Michael Jackson nach der neunten Operation sagen würde. Wirklich spektakulär. Feine Exotik, etwas Pfirsich, dezenter Schmauch. Zum Schnüffeln schön.
Am Gaumen Power, Länge und Struktur. Exzellent. Dunkler, mineralischer Kern, eine geballte Faust Extrakt, hinzukommt eine Spur phenolischer Grip, die den Wein rahmt und eine augenzwinkernde Exotik, die zu keinem Zeitpunkt aufdringlich wird, sondern gentlemanlike im Hintergrund agiert. So geht großer Riesling, keine Frage. Wenn man pingelig sein möchte, und das möchten wir bei tausendfünfhundert Nachos, fehlt dem Wein ein Hauch Säure, um diesem einen fortgeschrittenen Gottkomplex attestieren zu können, dennoch bockstark. Der beste Riesling meines Lebens? Schwer zu sagen wie Zungenbrecher. Nichtsdestotrotz ein monumentaler Wein.
Zu einem Carpaccio von der Jakobsmuschel an einem leichten Vanille-Schaum, etwas schwarzem Trüffel, Schnittlauch und Creme Fraîche gibt es spektakulären Corton-Charlemagne von Marc Colin aus dem Jahr 2009 und einen Leflaive Meursault 1er Cru von 2014. Ich trinke momentan seltener Chardonnay für alte weiße Männer, doch beide Burgunder ballern, besonders der Colin brilliert. Steht wie eine Eins mit Sternchen. Für sich und neben dem feinen Meeresbewohner. Auch der Leflaive zeigt wieder, warum das Weingut immer eine sichere Bank ist, wenn es um klassischen Chardonnay aus der Hypetrain-Region numero uno geht. Besonders gut gefällt mir der präsente, doch wohldosierte Holzeinsatz, der beiden Weinen eine zartschmelzende Mehrdimensionalität verleiht, die von gelben Früchten, dezenter Reduktion und einer feinen Säure Volley genommen wird. Ein Balanceakt. Stark.
Danach beamen wir uns straight Richtung Walhalla. Der Krug Clos du Mesnil ist fällig. Zwölf Jahre Hefelager, 100 % Chardonnay aus einer einzelnen Parzelle, hier aus dem Jahr 2008. Der erste Schluck performt direkt. Eine Bestie von Schaumwein. Als würde ein Bodybuilder Ballett tanzen. Druckvoll, doch elegant, mit Power, dabei frisch, stimulierend und enorm mundwässernd. Eine Struktur, die schiebt und schiebt und schiebt. Engmaschige Perlage, feine Säure, hinten raus ein leichter, doch langanhaltender Schmelz, der den Gaumen auskleidet – göttlich. Ein aristokratischer Tropfen. Am Gaumen Kalk und Kreide, feine Autolyse, eine leichte Salinität, nussige Töne, die Assoziationen von Mandeln hervorrufen und irgendwo schwimmt auch die Zeste einer einsamen Amalfi-Zitrone in diesem Infinity Pool aus fein blubberndem Göttersprudel. Ein Henkersschluck, der alles spielerisch in sich vereint, was monumentalen Schaumwein auszeichnet. Schwindelerregend schön. Davon eine Flasche kurz bevor die Aliens einreiten und meine Seele twerkt glücklich Richtung Milchstraße.
Eine wolkenweiche Kartoffel-Mousseline mit etwas Kaviar und Nussbutter on top passt perfekt dazu. Die ballistische Perlage des majestätischen Mesnils perforiert die Unmengen an Butter, die sich in dem blassgelben Schaum verstecken. Dazu die Salzigkeit des Kaviars und die Nussigkeit der braunen Butter, die Salinität und Autolyse spiegeln: 10/10. Ich schließe die Augen, atme tief durch und rufe mir ein letztes Mal ins Gedächtnis, dass all das, was sich hier gerade abspielt, nicht normal ist. Gestern saß ich noch im Internetcafé am Schillerplatz, heute schlürfe ich einen flüssigen Kleinwagen.
In der Ferne, auf dem steinernen Beckenrand des Pools, flackern neben der zarten Silhouette meines blonden Mosel-Flirts, der mir partout nicht aus dem Kopf gehen mag, zwei Flaschen Romanée-Conti wie eine Fata Morgana. Dass sich eine der drei ankündigten „Überraschungen“als zweite Flasche Romanée-Conti entpuppt, ist natürlich sexy und bedeutet wiederum, dass wir gleich zwei Weine aus der Lage Romanée-Saint-Vivant nebeneinander trinken werden. What a time to be alive.
Ich bin bisher nur in den Genuss der Lagen Échezeaux, Grands Échezeaux und La Tâche gekommen, deshalb bin ich besonders gespannt. Wir beginnen mit dem älteren Pinot, dem Romanée-Saint-Vivant aus dem Jahr 2001. Die Nase ist betörend. Wie ein Parfüm von Diptyque. Intensiv, doch naturbelassen. Gezuckerte Johannisbeeren, reife Sauerkirschen, mit etwas Fantasie duftet der Wein auch etwas nach Tomaten. Aber nicht diesen Wasserbomben aus den plexiverglasten Gewächshäusern in Holland, sondern honigsüßen Cherrytomaten mit tiefgrünem Strunk, die ich nur dann kaufe, wenn sie im Angebot sind. Abgerundet wird die Sillage von einem Hauch Minze und feinem Holz.
Am Gaumen wirkt der Wein unglaublich energiegeladen und saftig. Das hat Seele. Wie Alben von Marvin Gaye, Miles Davis und Stevie Wonder. Während mir große Klassiker oftmals zu choreografiert daherkommen, man könnte auch glatt sagen, wirkt der Wein lebendig und frisch. Irgendwo auch fragil, doch in sich ruhend. Das Tannin ist geschliffen, die Säure wunderbar integriert, doch so präsent, dass sie nichts von ihrem trinkanimierenden Allradantrieb einbüßt. In Summe ein perfekter Pinot Noir, der mir augenzwinkernd zeigt, dass ich Romanée-Conti nie wieder zu jung trinken sollte. Vermutlich der beste Rotwein, den ich jemals probieren durfte, wenn ich den Barolo Riserva Monfortino 2005 von Conterno und einen Castillo Ygay Gran Reserva Especial von 1959 außer Acht lasse. Wirklich Weltklasse. Der 2012er wirkt dagegen grüner, knackiger, wenn man so will auch ungestümer, vielleicht minimal zu jung. Ein göttlicher Pinot Noir, keine Frage. Für viele am Tisch ist er der bessere Wein, mich allerdings berührt der ältere Romanée-Saint-Vivant mehr, dessen letzten Schluck ich leise seufzend auf den Pool starrend austrinke. Das kann doch alles nicht wahr sein. Dieser Wein wird noch lange in mir nachklingen.
Dazu gibt es gebratene Würfel vom Rinderfilet in einer leicht getrüffelten Brühe mit Sellerie-Brunoise und Koriander, kein Steak & Cheese. Zum Reinlegen.
„1955er Latricières-Chambertin von Vandermeulen: Flüssige Zeitgeschichte. Ein Phantom, once in a lifetime, you name it. Allein für diesen Wein hätte sich der Weg nach Nürtingen gelohnt. Barfuß. Auf einer Straße aus Scherben.“
Bevor es Lafite und Mouton gibt, schieben Daniel und ein sympathischer Herr, der anscheinend Anwalt und Weinsammler ist, noch einen Wein ein, der sich als 1955er Pinot Noir von Vandermeulen aus der Appellation Latricières-Chambertin im Burgund entpuppt. Flüssige Zeitgeschichte. Ein Phantom, once in a lifetime, you name it. Allein für diesen Wein hätte sich der Weg nach Nürtingen gelohnt. Barfuß. Auf einer Straße aus Scherben.
Das Brüdergespann Vandermeulen, laut Legende zwei clevere Unternehmer, der eine Kaufmann, der andere Kellermeister, haben renommierten Bordeaux-Weingütern und Betrieben im Burgund Anfang bis Mitte der Nullerjahre, sprich Anfang 1900, die besten Gebinde abgekauft und sich anschließend um Lagerung und Vertrieb gekümmert. Im Burgund weiß man allerdings nicht, welcher Betrieb hinter welcher Füllung steckt. Anscheinend befinden sich viele Fälschungen im Umlauf, teilweise wurden die feinen Pinots auch mit Portwein gepimpt oder mit Trinkmarmelade von der Rhône stabilisiert, um diese haltbarer zu machen, doch laut Daniel ist unsere Flasche original.
Dass der älteste Pinot meines Lebens dermaßen stilvoll, frisch und lebendig um die Ecke schlendern würde, war mir nicht bewusst. Auch die Säure ist noch präsent. Kaum Anklänge von morschem Schwemmholz, durchgeweichten Pilzen oder unangenehmer Oxidation. Ganz im Gegenteil: feiner Tabak, etwas Bitterschokolade, Schwarzkirschen, die auf dem Zenit ihrer Reife konserviert wurden. Sehr fein, saftig tänzelnd und wunderbar frisch. Genial. Mindestens so gut wie die beiden Weine davor, vielleicht sogar besser, ich weiß es nicht, da mich langsam eine gewisse Ungläubigkeit beschleicht. Auch die zweite Überraschung ist eine 10/10.
Die beiden Weine aus Bordeaux mit dem berühmten Familiennamen haben es danach alles andere als easy, da ihnen die tänzelnd feine Saftigkeit fehlt.
Der Mouton kommt wie immer kosmopolitisch daher. Glatt, wenn man so will. Ein Allerweltstropfen, der immer performt. Gut, rundum rund. Sehr gut sogar. Mir allerdings fehlen die Ecken und Kanten, ein USP. An anderen Tagen sicher Wein des Abends, heute eines der kleineren Lichter dieses Funken sprühenden Feuerwerks.
Der Lafite zeigt dagegen mehr Charakter. Dunkel, tief, kaum Frucht, dafür Terroir, leichte Steinigkeit, etwas Rauch und Bleistiftspitze. Hinzukommen gesalzene Pflaume, Trüffel und Erde. Ein brutal guter Wein, doch nach den schmusigen Pinots etwas schroff.
Mouton oder Lafite? „Der Lafite zeigt mehr Charakter. Dunkel, tief, kaum Frucht, dafür Terroir, leichte Salzigkeit, etwas Rauch und Bleistiftspitze. Hinzukommen gesalzene Pflaume, Trüffel und Erde. Ein brutal guter Wein, doch nach den schmusigen Pinots etwas schroff.“
Statt dem klassischen Zwischenwasser gibt es zwei Flaschen Sprudel: Bollinger und Dom Pérignon. Genauer genommen einen R.D. aus dem legendären Jahr 2008 und einen Plénitude P2 von 2002. Beides bockstarke Schäumer, die zu später Stunde Spaß machen, vor allem der Bollinger R.D. lullt mich mit seiner feinen Autolyse ein, die von einer engmaschigen Perlage getragen wird. Rachenputzer der besonderen Art, bevor es in Richtung Süßwein geht.
Gegen die schwerelose Beerenauslese Niersteiner Hipping aus dem Jahr 2011 von Klaus-Peter Keller wirkt der Château d'Yquem von 2003 mit seinen üppigen 14 Vol.-% Alkohol wie der letzte Kurze im Club, der einen mit übermäßig angeregtem Speichelfluss auf die Toilette katapultiert. Don’t get me wrong, bei allem Respekt, d’Yquem ist Legende, vor allem die schlanken Jahrgänge schmecken wie Nektar, doch gegen den federleichten Riesling mit schlanken 6,5 Vol.-% Alkohol sieht der mystische Süßwein aus Bordeaux kein Land. Zu warm, zu breit, hinzukommt eine leichte Brandigkeit, die im Rachen nachhallt und auf den hohen Alkohol zurückzuführen ist, der wiederum im wärmsten Jahr für das Château seit den Wetteraufzeichungen 1896 wurzelt. Trinkfluss: Fehlanzeige. Ein waschechter Botrytis-Vorschlaghammer, sehr viskos, nahezu ölig, nicht meins, sorry.
Der Keller dagegen Champions League und mindestens so berührend wie der G-Max. Leicht, tänzelnd, filigran, unglaublich fein, dabei durchaus süß, allerdings nie pappig. Feine Exotik, etwas Pfirsich, perfekter Süße-Säure-Slalom, irgendwie bezaubernd. Als hätte Klaus-Peter Keller eine Märchenfee ausgewrungen, um daraus dieses eisblumenkristalline Elixier zu keltern. Sicher einer der besten Süßweine meines Lebens.
„Die schwerelose Beerenauslese Niersteiner Hipping 2011 von Keller: Irgendwie bezaubernd. Als hätte Klaus-Peter eine Märchenfee ausgewrungen, um daraus dieses eisblumenkristalline Elixier zu keltern.“
Danach geht‘s an die Mosel. Als wäre ich die letzten Wochen und Monate nicht oft genug dort gewesen. Zumindest geistig. Bei meinem süßen Flirt, der noch immer durch meinen Kopf spukt. Klassischer Nachgärer. Genau genommen sind wir bei Egon Müller an der Saar. Auf der von Tischlampen gesprenkelten Tafel steht die Spätlese aus der legendären Lage Scharzhofberg. Ein auf verwitterten Schieferböden fußendes Süßwein-Eldorado in Wiltingen.
Mittlerweile ist es dunkel. Der Mond spiegelt sich glitzernd im Pool, das Line-up der leeren Flaschen steht auf dem Beckenrand wie eine Trophäensammlung. Im Nacken ein Heizstrahler, der leise schnurrt, vor mir die Flasche aus dem Jahr 1999, die sich nach dem Conti von 2012 und dem Vandermeulen aus 1959 als dritte „Überraschung“ entpuppt.
Der Wein schmeckt ganz wunderbar. Ungefähr so wie ich mir die Küsse meines Mosel-Flirts vorgestellt habe. Frisch, floral, durchzogen von einer tänzelnden Süße, gleichzeitig intensiv, animierend und mundwässernd. Ich denke an Blütenhonig, kandierte Zitrusfrüchte, vielleicht auch an Mandeln, funkelnd blaue Augen, blondes Haar, karamellfarbene Haut und sanfte Lippen, die ich niemals schmecken werde. Ein wunderschöner Wein und der perfekte Abschluss dieses durchaus denkwürdigen Abends, der sich langsam dem Ende zuneigt.
Ich knipse ein schnelles Bild von der Spätlese, poste eine Story auf Instagram und verstaue mein iPhone in der Innentasche meiner Jacke. In der Zwischenzeit snacke ich etwas Käse, trinke ein Glas Mineralwasser, lausche den letzten Gesprächsfetzen, die über den Tisch purzeln und lasse den Blick schweifen. Ich bin angeheitert, irgendwie andächtig, glücklich, dankbar, euphorisiert, leicht wehmütig und gleichzeitig motiviert. Eine wilde Cuvée aus Gefühlen flutet meinen Körper. Dominiert wird die Assemblage von tiefer Dankbarkeit. Ich denke an meine Kumpels. An Vince, Mike, Johannes und Markus, die sicher viel Spaß mit den Weinen gehabt hätten. An die guten Vibes, die geilen Weine und das verdammt leckere Essen. An das Internetcafé in Stuttgart-Vaihingen, meinen Homie Denis, meine Mutter, meinen Vater, den lieben Gott und selbstverständlich auch an Mosel_Girl_98, die just in diesem Moment meine Story mit der Spätlese liked, so als würde sie sich mir nachträglich ins Gedächtnis rufen wollen, obwohl sie doch sowieso mietfrei in meinem Kopf lebt.
Es ist kurz nach 23 Uhr. Die ersten Gäste machen sich langsam auf den Weg. Geistig packe auch ich langsam meine sieben Sachen. Stuttgart calling. Vielleicht geht ja noch was in der City, wer weiß. Ein Bierchen als erdender Abschluss oder so. Um straight ins Bett zu gehen, ist die letzten Tage zu viel passiert.
Die Rückfahrt
Um kurz nach Mitternacht lasse ich mich glücklich grinsend in den Sitz des MEX 12 sacken, der mich laut Fahrplan in dreißig Minuten nach Stuttgart beamt. Ich krame meinen iPod Shuffle aus der Jackentasche, verbarrikadiere meine Lauscher mit den In-Ear-Kopfhörern und lasse mir das Trommelfell von Sampha, Frank Ocean und Brent Faiyaz massieren. Eine Fahrkarte ziehe ich nicht. Aus Prinzip. Nicht etwa, weil ich zu faul bin oder keine Kohle habe. Nach solch einem Abend: drauf geschissen. Ich bin sowieso der festen Überzeugung, dass der öffentliche Nahverkehr für lau sein sollte.
Wayne juckt's
Das Fahren ohne gültiges Ticket kann demnach als stiller Protest meinerseits gesehen werden. Es kommt nur auf den Blickwinkel an. Wie immer im Leben. Außerdem: Als ob ich um 0:06 Uhr in Nürtingen kontrolliert werde. In Nürtingen. Niemals. Wäre ich Fahrtkartenkontrolleur würde ich mich weigern, armen Bürgern, die gerade Romanée-Conti trinken mussten, um diese Uhrzeit auf den Keks zugehen. Vor allem in Nürtingen. Falls es doch so kommen sollte, fresse ich einen Besen in der Größe des Eiffelturms. Dann soll es so sein. Schicksal. Vorbestimmung. Das Universum, you name it. Das Taxi hätte am Ende auch 60 Steine gekostet: #girlmath.
Eine Haltestelle später kommt, was kommen muss. Richtig, 100 Punkte für Gryffindor, eine Fahrkartenkontrolle. Eine fucking Fahrtkartenkontrolle. In Nürtingen. Nachts um 0:22 Uhr. Ich wiederhole: eine fucking Fahrkartenkontrolle in Nürtingen nachts um 0:22 Uhr. Wo bleibt dieser beschissene Besen, wenn man ihn mal braucht? Da ist es wieder, das Universum, das einem augenzwinkernd die Zunge herausstreckt.
The universe strikes back
Selbst schuld, wenn man zwei Minuten zuvor, stolz auf Instagram ankündigt, dass man schwarzfahren würde, da nach diesem denkwürdigen Abend sowieso alles scheißegal ist. Ich gestehe die Beförderungserschleichung brav, gebe der Kontrolleurin meinen abgelaufenen Personalausweis, sitze die Datenaufnahme dummscrollend aus und nehme den Wisch nach drei Minuten breitgrinsend entgegen. Ich bin so ein Idiot. Dass ich erwischt wurde, poste ich selbstverständlich auch. Unnötig, aber ist jetzt so. Das Taxi wäre wie gesagt auch nicht günstiger gewesen.
Auf Instagram steppt währenddessen der Bär. Mein Postfach platzt aus allen Nähten. Likes, Reactions, alles. Ein Follower fragt humorvoll, ob ich auf dem Geburtstag von Maxi Riedel war und dass ich nach der Ansage wirklich beim Schwarzfahren erwischt wurde, sorgt selbstverständlich für Gelächter. Große Etiketten scheinen die Menschen noch immer stark zu faszinieren, auch im Jahr 2024. Der Mythos lebt.
Die Bahn spuckt mich um 0:33 Uhr am Hauptbahnhof aus. Funkstille auf WhatsApp. Niemand unterwegs. Just Me, Myself and I. Milton, Sidney und Curtis. Ein letztes Bierchen muss dennoch sein. Wie immer nach einer Wagenladung Wein.
Das letzte Bierchen
Kurz nach 1 Uhr strande ich im Concha am Wilhelmsplatz. Alles riecht nach Rauch. Toilettenwände wie Notizheftseiten, Familienväter, die zusammengekauert vor blinkenden Spielautomaten sitzen und Jugendliche, die damit beschäftigt sind, lässig auszusehen, während sie Bier trinken. Eine Bilderbuchabsteige. Conti, Krug und Keller kennt hier niemand und dass ich gleich einen flüssigen Kleinwagen ins Pissoir strullen werde, interessiert auch keine Sau. Ein Komplementärkontrast von Kneipe, genau das Richtige.
Ich lasse mich auf einen Barhocker plumpsen, lehne mich zufrieden grinsend an die vollgekritzelte Wand hinter mir und nehme einen großen Schluck von meinem Bier, das in diesem Moment mindestens genauso gut schmeckt wie der legendäre Romanée-Saint-Vivant aus dem Jahr 2001. Eine bessere Landung hätte ich mir nach diesem vinophilen Höhenflug nicht vorstellen können. Mal sehen, wann Mr. X die Flügel wieder ausbreitet. Mein Postfach wird es mir schon verraten. Ich warte so lange im Taubenschlag und träume von einem Steak & Cheese, das noch nach Steak & Cheese schmeckt.