Ganz schön hässlich - Tiflis, die Naturwein-Hauptstadt

Tiflis ist eine wunderschöne und gleichzeitig hässliche Stadt, eine angejahrte orientalische Schönheit, voller Widersprüche. Attraktiv und abstoßend gleichermaßen. SCHLUCK-Autor Jürgen Schmücking zieht es immer wieder hin und immer wieder ist er froh, wieder wegzukommen. Hier erzählt er, warum das so ist.

Gefühlt wollen alle nach Tiflis. Vor Covid-19 auf jeden Fall. Journalisten, denen Paris und London nicht mehr schick genug sind, fahren in die Hauptstadt des Naturweines, schreiben über Restaurants, die in abbruchreifen Häusern residieren. Das hat Sex. Vielleicht auch Schmuddelsex. Grunge Trips nach Georgien. Die Lust an der Reibung, am Widerspruch an sich. Er hat in Tiflis sein Hauptquartier. Einerseits leben hier so warmherzige und gastfreundliche Menschen, dass man traurig wird, denkt man darüber nach, wie es um Gastlichkeit und Warmherzigkeit zu Hause bestellt ist.

Andererseits ist da eine kriegerische Vergangenheit, die teilweise Jahrhunderte und noch weiter zurückreicht. Die Stimmung pendelt zwischen postkommunistischer Tristesse und hipper Aufbruchsstimmung. Die Bausubstanz tut es ihr nach. Es gibt Orte, die diesen Widerspruch zum Programm machen.

Die Fabrika zum Beispiel. Eine alte Textilfabrik, falsch, eine sowjetische Großnäherei. Heute ist die Fabrika ein vibrierender urban space. Die Wände, außen wie innen, voll mit Graffiti, reichlich Raum zum Abhängen, aber auch zum Arbeiten. Ein multifunktionaler co-working space mit Craft Beer Bars, Ateliers junger Künstler. Absolut empfehlenswert: Shio Ramen. Ernsthaft. Der erste Ramenshop Georgiens.

„Zwischen postkommunistischer Tristesse und Aufbruch“

Das signature dish heißt wie der Laden selbst und ist eine großartige Abwechslung zu Chatschapuri und Chinkali. Dann gibt es noch die Fabrika-Events, und da ist das Angebot umwerfend. Von ZEG, dem Tbilisi Storytelling Festival, bis hin zu Tango-Workshop, Mate-Tasting und Rooftop Yoga. Die Fabrika ist das Centre Pompidou von Tiflis.

Shabby Chic ist in Tiflis kein Modetrend. Es ist die einzige Überlebensmöglichkeit

Jedes Jahr im Mai findet in der Fabrika das Natural Wine Fest ZERO COMPROMISE statt. Eine „Messe“ und gute Gelegenheit, Iago, Ramaz, John und die Jungs zu treffen. Wobei: Messe unter Anführungszeichen, weil sich hier in kurzer Zeit die klassischen Messe-Strukturen (hier Winzer, da Kunde, dazwischen ein Tisch) in einer lauten Party auflösen. Die Kunden stehen rund um die Tische, schenken sich gegenseitig ein, die Winzer sind in der Mitte des Raumes. Oft tanzen sie auch zur Musik.

Längst ist es kein Geheimnis mehr, dass es in der Stadt ein paar sehr, sehr lässige Weinbars und andere Lokale gibt. Für alle, die Berichte über die georgische Hauptstadt bisher immer überblättert haben: Immer noch herausragend sind ღVino Underground, quasi die Keimzelle der Natural-Wine-Bewegung Georgiens, g.Vino, die einzige ernsthafte Bar in der Erekle Street mit respektabler georgischer Küche – im Gegensatz zur ღVino Underground, in der es nur großartiges Fingerfood gibt.

Der Wohnblock selbst hat den Charme eines geleerten Joghurtbechers, das Bina N37 (die Nummer am Türschild) selbst ist zauberhaft. Die Weine werden oben im Dachgeschoss auf der Terrasse gekeltert. Dafür hat Zura, der Wirt des Bina, zwei, wie er sagt: „bauliche Veränderungen“ durchgezogen. Zum einen wurde eine Batterie Amphoren im Boden einzementiert, zum anderen ein Lastenaufzug an der Hausmauer gebaut. Die Trauben müssen ja irgendwie rauf in den obersten Stock.

Wein wird auf dem Dach produziert. Wer blöd fragt oder irgendwie die Stirn runzelt, geht durstig nach Hause.

Einmal im Jahr werden die Amphoren am Dach mit Rkatsiteli-, Kisi- und Saperavi-Trauben befüllt. Man stelle sich jetzt dazu die Gesichter der Beamten und die Korrespondenz mit den Behörden vor, wenn man so eine Idee in Deutschland oder Österreich umsetzen möchte. Nein, man stelle sich diese Leute lieber nicht vor.

Um auf ein weiteres must have hinzuweisen, holen wir weiter aus. Der Gründungsmythos der Stadt erzählt von einem erlegten Hirsch, der, den Pfeil in der Halsmähne steckend, in eine der heißen Quellen an den Ufern des Flusses Kura sprang und heil vor dem Jäger stand. Dieser Jäger, Gurgarslan, genannt der Wolfslöwe, war davon so ergriffen, dass er seine Rittersleut‘ rief, um an der Wunderquelle eine Stadt zu errichten. Tphilisi. Die Warme.

Raus aus dem Gewand, rein in ein bizarres Badeerlebnis.

Soweit der Mythos. Egon Erwin Kisch erzählt in seinem Buch „Zaren, Popen, Bolschewiken“ aus dem Jahr 1927 eine viel profanere Geschichte. Nämlich, dass der georgische Monarch Wachtang I. Gorgassali (die Ähnlichkeit mit dem bürgerlichen Namen des Wolfslöwen ist vermutlich nicht ganz zufällig) die Quellen entdeckt hat. Zwar sehr wohl bei der Jagd, nur war kein Hirsch und keine Zauberei im Spiel. Nur ein kleiner Windstoß, der seiner Begleiterin einen Schleier vom Kopf wehte. Die Hunde hinterher und beim Schwefel (es sind nämlich schwefelreiche Quellen) schlugen sie an. Die Österreicher kennen das. Sie verdanken einem verwehten Schleier die Gründung Klosterneuburgs.

Die heißen Quellen sprudeln immer noch in Tphilisi. Meine Empfehlung: Raus aus dem Gewand, rein in ein bizarres Badeerlebnis. Im Abanotubani-Viertel sind die Kuppeln mit den Schwefelbädern unverkennbar. Und sie sind alt. Das hat zur Folge, dass die Bäder zwar Geschichte atmen, andererseits aber so angejahrt sind, dass nicht wirklich das Gefühl von Luxus aufkommt.

Das Thema Massage behandelt Egon Erwin Kisch in seinem großartigen Text, in dem er vom endlosen Malträtieren mit heißem Wasser und Rosshaarlappen schwadroniert. Deshalb lieber keine Massage! Wenn das geklärt ist, kann man ins heiße Wasser eintauchen, im schwefeligen Dampf versinken und das hektische Tiflis für eine Stunde oder zwei einfach wegatmen.

Verfall und Aufbruch auch im Straßenverkehr, er wirkt chaotisch und nur durch rudimentäre Regeln geregelt. Und doch vermittelt er ein Gefühl von Sicherheit. Tiflis ist im Aufruhr. Und irgendwann profitieren von diesem Aufbruch auch die Fassaden der alten Häuser. Bis dahin suchen wir das Schöne in der Vergänglichkeit. Und öffnen die nächste Flasche Wein.

Dieser Artikel ist in Schluck - Duft - Ausgabe 9 erschienen.
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Über Jürgen Schmücking

Jürgen Schmücking ist rastloser Reisender in Sachen Wein & Kulinarik, den Notizblock immer dabei, die Kamera stets schussbereit. 2016 ist sein Buch "A Fette Sau" über das Mangalitzaschwein erschienen. Er lebt und schreibt in Tirol.

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